Tagebuch eines Unternehmens in VUKA-Zeiten
Ein persönlicher Erfahrungsbericht während der Corona-Pandemie
Mein Name ist Isabela Plambeck. Ich bin Innovation Coach in einer kleinen aber feinen Beratung in München. Wir unterstützen Organisationen dabei, fit für die Zukunft zu werden. Ich glaube, ich muss niemandem erklären, wie die aktuelle Lage für ein Unternehmen mit sieben festangestellten Mitarbeitern ist, deren Kerngeschäft auf Co-Creation und Kollaboration mit Kunden in Form von Beratung, Workshops und Trainings basiert. Alles wird auf unbestimmte Zeit „verschoben“ oder gleich abgesagt.
Wir sind als Team selbstorganisiert. Das bedeutet, dass es bei uns zwar rechtlich gesehen einen Geschäftsführer gibt, die Verantwortung für das Unternehmen aber bei uns allen liegt. Gemeinsam gestalten wir unser Unternehmen und treffen relevante Entscheidungen. Wir arbeiten stetig und ständig an unserem eigenen System, um uns flexibel an äußere Umstände anpassen zu können. Wir haben uns schon viele Szenarien für Krisenfälle überlegt und mögliche Vorgehensweisen definiert. Aber mit so etwas wie CoVid-19 und einer Lähmung in diesem Umfang hat natürlich niemand gerechnet. In anderen Worten ausgedrückt: Mehr VUKA, also Volitilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität, geht kaum noch…
Ich schreibe diesen Artikel, weil ich gerade in diesen Zeiten von uns als Team begeistert bin, wenn ich darüber reflektiere, wie wir mit dieser Krise umgehen. Ich möchte diese spezielle Erfahrung mit jedem teilen, der Interesse an selbstorganisierten Entscheidungs-Prozessen und Reflexion über das eigene Unternehmen hat. Ich möchte damit nicht prahlen, oder irgendetwas darstellen, was nicht ist. Die, die uns kennen, wissen, dass wir Transparenz schätzen und leben und auch offen mit unseren Hürden und Schwierigkeiten umgehen. So hatten wir auch schon öfters externe Gäste bei unseren internen Governance Meetings. Ich möchte das, was ich in dieser Zeit erlebe, für mich dokumentieren, und anderen, für die es eventuell hilfreich sein könnte, zugänglich machen.
Das obige Bild habe ist von meinem Mann @kimi.gutierrez, der als Designer und Illustrator den Spirit dieser Unsicherheit sehr gut getroffen hat, wie ich finde. Es hagelt auf uns herab. Wir schlagen den Kragen hoch, legen den Schirm tiefer und schreiten voran, denn es geht weiter – oder besser, es muss weiter gehen.
(In kursiv sind erklärende und ergänzende Infos zu unserer Organisationsstruktur.)
Die Krise kommt voll an
Heute, am 12. März 2020, fand unser monatliches Governance Meeting statt. In diesen Meetings kommen wir (idealerweise) alle zusammen, tauschen Informationen zum operativen Geschäft aus und treffen systemrelevante Entscheidungen. Wir hatten für den 23. März bereits ein spezielles Krisenmeeting angesetzt, um das Corona-Thema zu adressieren. Wir wollten aber die Gelegenheit gleich nutzen, um mit unserer üblichen Vorgehensweise zu starten. Wenn wir nach praktischen Lösungen für komplexe Herausforderungen suchen, analysieren wir, entsprechend der von uns eingesetzten Methoden, erst einmal die Lage. Einige von uns hatten schon vor dem Meeting erste, relevante Informationen in einem Dokument gesammelt. Dazu gehörten Zahlen, Daten und Fakten zur Entwicklung der Krankheit selber, aber auch eine Übersicht der Ausfälle, die jeder Innovation Coach bei uns schon direkt oder indirekt aufgrund der Pandemie hatte. Dem gegenüber stand die Übersicht der aktuellen Liquidität der GmbH und eine Einschätzung, wie lange diese noch reicht, sollten weitere Termine ausfallen. Die Transparenz dieser Zahlen ist bei uns nicht ungewöhnlich. Wir schauen jeden Monat gemeinsam auf die Zahlen und achten auf die finanzielle Entwicklung unserer Firma.
Was also tun, wenn Aufträge wegfallen und die Liquidität über die nächsten Monate dahinschmelzen wird…? Die Regierung hatte bereits verkündet, die Regelung zum Kurzarbeitergeld, ausgezahlt von der Bundesagentur für Arbeit, aufzulockern. Eine gute Maßnahme, die uns enorm helfen könnte. Gleichzeitig zeigt dieses Thema unseren doch etwas speziellen Umgang mit möglichen Krisen und schwierigen Entscheidungen.
Noch im Rahmen des Governance Meetings gab jeder von uns eine kurze Einschätzung der persönlichen, finanziellen Lage ab. Alle Anwesenden antworteten auf die Frage wie es bei ihnen persönlich finanziell mit einem möglichen Engpass aufgrund von Kurzarbeit aussehen würde, wie lange sie sich über Wasser halten könnten. Die Antworten hierzu waren sehr bunt von: „eine finanzielle Einbuße ist bei mir aktuell nicht möglich“, bis zu „bei mir reicht es länger noch aus“. In meiner Wahrnehmung wurden diese doch sehr sensiblen Statements so wertschätzend wahrgenommen, ohne großes Trara in die eine oder andere Richtung, dass mir richtig warm ums Herz wurde. Ich hatte auch während des gesamten Gesprächs das Gefühl, dass wir wirklich alle an einem Strang und in die gleiche Richtung ziehen.
Zum Verständnis möchte ich an dieser Stelle unsere unterschiedlichen Rollen erwähnen. Wir sind alle angestellt, aber einige von uns sind zusätzlich noch Geschäftsführer und/oder Gesellschafter. Hier könnten ja klassischerweise Konflikte aufkommen. Angestellte pochen vielleicht auf ihre Rechte und Interessen, ohne die GmbH und deren Fortbestand im Blick zu haben; die Gesellschafter wiederum handeln nur im Interesse der GmbH (und deren finanzieller Möglichkeiten), und ignorieren das Schicksal „der kleinen Mitarbeiter“. Beide Perspektiven gleichzeitig zu sehen und zu bedenken ist herausfordernd, gerade wenn man sie in Personalunion sowieso schon innehat. Diese Herausforderung bewältigen wir immer wieder aufs Neue, indem wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die für uns alle die möglichst besten sind.
Im Governance Meeting war zu diesem Zeitpunkt Schluss. Zum einen hatten wir einen begrenzten Zeitslot eingeplant, der wirklich nur für den Beginn der Analyse ausgereicht hat. Zum anderen konnten nicht alle Personen anwesend, sein, weshalb auch nicht alle Perspektiven vertreten sein konnten. Es ergab sich aber eine weitere Chance für die Bearbeitung des Themas. Wir treffen uns am 18.03 um die Analyse fortzuführen.
Heute schaue ich auf letzte Woche, und auch auf die Wochen zuvor, zurück, und denke darüber nach, wie es sein kann, dass wir diese Art von Umgang und diese Art von Kultur in unserem Unternehmen haben. Dabei wird mir mal wieder einiges klar. Es ist unglaublich wichtig, dass Menschen, die ein gemeinsames Unternehmen haben, die also Lebenszeit in etwas investieren, zum einen an das glauben, was sie tun, und sich damit identifizieren. Zum anderen brauchen sie gegenseitiges Vertrauen. Und das ist etwas, das nicht von heute auf morgen und mal so nebenbei passiert. Das war auch bei uns ein Arbeitsaufwand, den wir bewusst durch die Pflege unseres zwischenmenschlichen Raums geleistet haben. Ich muss immer wieder den Kopf schütteln, wenn ich von unseren Kunden höre, dass sie mehr Unternehmertum der Mitarbeiter oder mehr Identifikation von den Mitarbeitern erwarten. Auf die Frage, was sie denn dahingehend täten kommt die Antwort: „Wie tun? Das ist doch selbstverständlich?“ Nein! Ist es nicht! Es brauch Zeit und Fokus.
Ankunft im Zeitalter der digitalen Meetings
Heute, am 18. März 2020, haben wir für glatte vier Stunden online gemeetet. Selbstverständlich waren da auch Pausen dabei, aber es war schon ganz schön lang. Da merke ich doch den Unterschied zum realen Treffen. Ich habe den Eindruck, dass das Sitzen vor dem Rechner auf ganz andere Weise schlaucht, als ein reales Treffen. Man muss sich mehr konzentrieren, man sitzt generell unbequemer, der Ton ist oft nicht ideal und man muss sich auf demselben Bildschirm auf unterschiedliche Inputs fokussieren (z.B. Videocall und geteilter Bildschirm). Außerdem sieht man sich selbst die ganze Zeit, was noch eine weitere zusätzliche Info für das Gehirn ist.
Wir starteten mit einem Check-in. Das war sehr hilfreich für mich, da im virtuellen Raum zusätzliche Informationen wie Körpersprache oder Augenkontakt wegfallen. Außerdem ist mir aufgefallen, dass, wenn man sich live trifft, immer ein bisschen Small Talk stattfindet, bevor man ein Meeting startet. Im virtuellen Raum ist es eher üblich, dass man gleich loslegt. Es war schön, kurz von jedem zu hören wie es ihm oder ihr geht, wie die Lage uns persönlich gerade beschäftigt, und wie wir mit der Situation privat umgehen.
Dann haben wir da weitergemacht, wo wir neulich aufgehört haben. Heute waren auch Daniel und Nadine da, was es für mich runder gemacht hat. Jetzt sind wir alle auf demselben Stand. Wir haben weitere Informationen und Rechercheergebnisse vorgestellt und besprochen. Ein Punkt, der im Laufe des heutigen Meetings zentral wurde, war, zu beschließen ob, und wenn ja, in welcher Form wir Kurzarbeit beantragen. Um da hin zu kommen, sammelten wir als Erstes mögliche Fragestellungen, auf die wir Antworten, meist in Form von Ideen, haben wollen. Es kamen viele bunte Fragen auf, die es an der ein oder anderen Stelle sicherlich zu beantworten gilt. Wir starteten dann mit der Frage: Für welchen Zeitraum planen wir konkrete Maßnahmen?
Szenarien für eine unsichere Zukunft
Auf diese Frage entwickelten wir unterschiedliche Szenarien, die darstellen, wie sich die Lage durch die Krankheit und den daraus entstehenden wirtschaftlichen Konsequenzen weiterentwickeln.
Szenario 1:
Ähnlich wie in China, die waren dort etwa drei Monate außer Gefecht. Das würde für uns bedeuten, dass wir ab Mai oder spätestens Juni mit Kunden sprechen könnten. Vielleicht geht es auch erst im Juli wieder los. Wir wissen nicht, welche Angebote in welcher Form gefragt sind. Eine leichte Rezession ist wahrscheinlich.
Szenario 2:
Es bessert sich bis Ende April. Die Einschränkungen werden allerdings erst mit Verzögerung zurück genommen, z.B. Reisebeschränkungen. Das könnte bedeuten, dass die Einschränkungen erst im September oder Oktober wieder aufgehoben sein werden.
Szenario 3:
Das Virus bessert sich und schlägt im Herbst wieder durch. Dann kommt es zu einem neuen Ausbruch. Eine wirtschaftliche Rezession bis hin zu einer Weltwirtschaftskrise ist möglich.
Szenario 4:
Die Virussituation verbessert sich nicht und wir müssen das ganze Jahr mit Einschränkungen leben. Dazu kommt eine wirtschaftliche Rezession.
Szenario 5:
Zombie-Apokalypse. Falls wir nicht alle umkommen werden wir überleben, weiterkämpfen und eine neue Gesellschaft gründen!!!
Szenario 6:
Volle Kehrtwende, die Bevölkerung wird durchseucht, es werden nur noch die wirklich Kranken geschützt.
Szenario 7:
Es gibt noch in diesem Jahr einen Impf-Wirkstoff.
Szenario 8 (Hoffnung und Utopie):
Die Gesellschaft ändert sich komplett. Das ÖDP Wahlprogramm wird Realität. Es dreht sich zum Positiven.
Wie man an den Szenarien 5 und 8 sehr schön sehen kann, hatten wir trotz der ernsten Lage auch Spaß. Gerade in so einer Situation ist es für mich essenziell, den Humor nicht zu verlieren, oder ihn vor meinen Kollegen verstecken zu müssen. Da wir es gewohnt sind, zu divergieren, sind wirklich auch alle Gedanken aufgeschrieben worden, ohne Bewertung. Selbst wenn klar ist, dass die ein oder andere Option nicht weiterbearbeitet werden wird.
Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir uns voller guter Hoffnung jetzt erst einmal auf die ersten drei Szenarien fokussieren wollen, um alle weiteren Themen zu besprechen. Es ist uns eh allen klar, dass sich die Lage von Tag zu Tag, ja manchmal von einer Stunde zur nächsten ändern kann. Damit müssen wir umgehen.
Und nun?
Danach ging es ans Eingemachte. Wir sprachen an, wer sich vorstellen könnte in welchem Rahmen, ganz konkret wie viel weniger zu arbeiten, und damit eben auch weniger zu verdienen, um in Kurzarbeit zu gehen. Auch in diesem Moment, genau wie beim letzten Treffen, war mein Eindruck, dass sich jeder von uns frei, offen und ehrlich äußern konnte und geäußert hat. In diesem Moment verschwamm mal wieder die Grenze zwischen dem Beruflichen und dem Privaten jedes Einzelnen. Ich finde es so wertvoll, dass wir uns als ganzes Unternehmen damit auseinandersetzen, was es mit jedem einzelnen im Privaten auf finanzieller Ebene macht, wenn er oder sie weniger verdient. Was löst es rein praktisch aus? Habe ich dann noch genug, um die Miete zu zahlen? Was macht es mit mir auf emotionaler Ebene, wenn durch eine Kurzarbeit ein finanzielles Ungleichgewicht zwischen mir und meinem Partner entsteht? Was habe ich für fixe Verpflichtungen? Und so weiter, und so fort. Ich habe (mal wieder) das Gefühl, jeden Einzelnen von uns wieder etwas näher kennengelernt zu haben. Das ist schön und kompensiert die äußeren Umstände sehr.
Weitere Punkte sind offengeblieben. Die angesetzten vier Stunden verflogen dann doch im Nu. Nächten Montag geht es weiter.
Learnings aus der VUKA-Krise
Wichtige Learnings für mich aus dieser ersten komplett virtuellen online Session, bei der jeder wirklich vor seinem eigenen Rechner saß (aus privatem und aber auch beruflichem Interesse).
- Ein Check-in ist essenziell, um ein Gefühl für die Grundstimmung im Raum zu bekommen.
- Regelmäßige Pausen: dieses Mal haben wir nicht vorab abgeklärt, wie oft wir Pausen machen wollten. Wir haben sie bei Bedarf gemacht. Das möchte ich demnächst anders machen.
- Ein Set-up mit mehr als einem Bildschirm ist sicher hilfreich, damit man seinen Fokus nicht immer bei allem gleichzeitig hat.
- Ich möchte mir mal Gedanken darüber machen, wie man in Teams, die noch keine so tiefe Vertrauensbasis haben wie wir, einen ersten Schritt in die Richtung in einem online Setting schaffen könnte.