Der Heureka-Moment

Kreative Arbeit, also das Schaffen von Neuem, gehört zu den wichtigsten Tätigkeiten des Menschen allgemein. Wir alle greifen auf einen natürlichen Kreativprozess zurück, der fest in unserer Psyche und unseren kognitiven Fähigkeiten verankert ist. Grob kann man den Prozess in zwei Abschnitte einteilen. Zuerst findet eine intensive Suche nach einer neuen Lösung für ein Problem durch bewusste Analyse statt. Nachdem die Ursache(n) des Problems betrachtet wurde prüft der kreative Geist in einem zweiten Schritt die Möglichkeiten einer Lösung. Je sauberer diese beiden Phasen getrennt werden, desto produktiver die Lösungsfindung.

In vielen Fällen findet man durch die Kombination aus Analyse und Ideenfindung bereits passende Lösungen. Was aber, wenn man feststeckt? Hier kommt ein interessanter Effekt ins Spiel, der in den Köpfen vieler Menschen sehr eng mit Kreativität verknüpft ist: Der Inkubation und einem Phänomen, das man als „Heureka-Moment“ bezeichnen könnte. Bei schwierigen, komplexen Problemen gelangen auch produktive, kreative Menschen häufig an ihre Grenzen. Abhilfe kommt dann manchmal völlig unerwartet und plötzlich. Nach der intensiven Beschäftigung mit dem Thema wendet sich der kreative Geist anderen Themen zu, arbeitet im Hintergrund aber nach wie vor an der Problematik; zufällige Beobachtungen können dann häufig den zündenden Gedanken bringen, wie in diversen historischen Fällen. Archimedes zum Beispiel entdeckte das Prinzip der Verdrängung als das Wasser in einem Bad überlief, nachdem er sich hineingesetzt hatte (so zumindest die Überlieferung). Deutlich aktueller ist der Einfall eines Shell-Ingenieurs: Inspiriert durch seinen Sohn, der die letzten Reste seines Milchshakes mit einem umgedrehten, knickbaren Strohhalm trank, entwarf er einen flexiblen Bohrer, der schwer zu erreichende Ölreservoirs anzapfen konnte.

Systeme des kreativen Denkens

So großartig die Effekte der Inkubation und der zufälligen Entdeckung origineller Lösungen auch sind, so gibt es auch Einschränkungen. Zum einen bringen zufällige Beobachtungen natürlich nur dann Erfolge, wenn man sich vorher tief in das Thema eingearbeitet hat. Oder, um es mit den Worten Louis Pasteurs zu sagen: Das Glück bevorzugt den, der vorbereitet ist. Zum anderen, und das ist das weit schwerwiegendere Problem, ist Inkubation nicht wirklich kontrollierbar. Man kann Inkubation begünstigen, wenn man herausgefunden hat, welche Formen der „Ablenkung“ nach einer eingehenden Analyse eines Problems die eigene Kreativität entfesseln. Für manche ist es Sport, für andere ein lockerer Spaziergang. Wieder andere benötigen mehr „stimulierende“ Tätigkeiten wie Kunst oder Musik.

Bei aller Selbstreflexion und Unterstützung kann ein Erfolg aber nicht garantiert werden. Und weil man sich vor allem in der Geschäftswelt nicht einfach auf einen glücklichen Zufall verlassen kann, greift man im Idealfall auf erprobte Methoden der systematischen Kreativität zurück, zum Beispiel mit einem Innovationsworkshop. Entsprechende Prozessmodelle wie Creative Problem Solving oder Design Thinking orientieren sich stark am Prozess der natürlichen Kreativität: Es gibt eine Phase der intensiven Analyse gefolgt von mehreren Abschnitten der Ideenentwicklung und Iteration. Die Ähnlichkeiten gehen sogar noch weitere. Einzelne Ideationstechniken ahmen natürliche Kreativität nach. Diverse Techniken versuchen auf verschiedene Arten und Weisen Konzepte und Gedanken aus anderen Bereichen auf die vorliegende Herausforderung zu übertragen. So entstehen häufig ähnliche gedankliche Brücken wie in den oben genannten Beispielen. Ein Blick in die Realität zeigt, dass viele erfolgreiche Erfindungen und Innovationen durch die Übertragung von Ideen und Konzepten in einen neuen Kontext entstehen. Das wird besonders im Bereich der Geschäftsmodellentwicklung deutlich, wo ein Blick in andere Industrien die zündende Idee inspirieren kann.

Eine ideale Mischung

In der Realität empfiehlt sich eine Mischung aus der Förderung natürlicher Kreativität und der Anwendung von systematischen Prozessen und Werkzeugen. Die Analyse des Problems oder der Herausforderung ist in jedem Fall notwendig. Durch Selbstreflektion findet man mit der Zeit auch heraus, wo, wann und unter welchen Umständen man das Prinzip der Inkubation am besten nutzen kann. Und in schwierigen Fällen hilft man mit konkreten Kreativtechniken nach.
Natürlich kann sich auch auf der Basis anderer Methoden intensiv mit einem Thema beschäftigen, z.B. mit Analyseprozessen der Wissenschaft. Es spricht aber einiges für Kreativ- und Innovationsprozesse wie das Creative Problem Solving oder Design Thinking. Die Analysephasen dieser Prozesse sind dafür entworfen worden, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass man wirklich an den Engpässen arbeitet, und sich nicht in kleinen, eher nebensächlichen Details verheddert. Und da der gesamte Prozess auf Kreativität und Entwicklung ausgerichtet ist, gehen der Analyseteil und die Ideen- und Lösungsfindung nahtlos ineinander über.

Auch für die Inkubation und die Entdeckung zufälliger Verbindungen kann die Arbeit mit systematischer Kreativität helfen. Das Vertrauen auf den Prozess und die Methode machen den Kopf frei für das Spielen mit Ideen. Gleichzeitig schult die häufige und bewusste Anwendung der Ideationstechniken das eigene Denken in verschiedene Richtungen. Je mehr man mit solchen Werkzeugen arbeitet, desto besser funktioniert die Übertragung von Konzepten, der schrittweise Aufbau von Ideen, und die effektive Nutzung von verrückten, originellen Ideen.

Natürliche und systematische Kreativität widersprechen sich also nicht. Im Gegenteil, die aktive Verwendung von Prozessen und Werkzeugen unterstützt eher das eigene Unterbewusstsein dabei, Zusammenhänge herzustellen und originelle Lösungen zu entwickeln.