Das Thema Selbstorganisation nimmt an Fahrt auf. Mehr und mehr Unternehmen experimentieren und arbeiten mit Werkzeugen, die mehr Selbstverantwortung und Selbstbestimmung ermöglichen und suchen nach Möglichkeiten, den Mitarbeitern mehr Partizipation zu erlauben. So auch wir. Unsere Reise begann vor fast drei Jahren, im Führjahr 2016, mit der Einführung von Holacracy. In Form mehrerer Artikel haben wir unsere Erfahrungen geschildert so auch erst kürzlich wieder auf unserem Blog.
Gelernt haben wir einiges. Wir haben Werkzeuge und Prozesse ausprobiert, eingesetzt, modifiziert und verbessert, teilweise auch wieder verworfen. Wir haben unsere Strukturen immer wieder hinterfragt, angepasst und weiterentwickelt. Die spannendsten Erkenntnisse waren aber, für mich zumindest, die beim Thema Mensch an sich. Selbstorganisation und auch die damit einhergehende Veränderung stellen uns Menschen vor große Herausforderungen, denen wir begegnen müssen, wenn wir das Potenzial unserer Organisationen entfalten wollen.
Systeme sind gut, aber am Ende zählen Menschen
Ein häufiger Vorwurf gegen Systeme und Strukturen der Selbstorganisation ist der, dass wir als Menschen in solchen Systemen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Sogar prominente Figuren der Szene wie Frederic Laloux postulieren bisweilen, dass „echte“ Selbstorganisation nicht auf einem festen System beruhen kann.
Werkzeuge und Prozesse sind aber außerordentlich hilfreich, wenn sie mit Verstand eingesetzt werden. Nur kommt der Verstand eben von uns Menschen, nicht von den Werkzeugen selbst. Gerade beim System Holacracy kann ich, das muss ich fairerweise sagen, den obigen Vorwurf durchaus nachvollziehen. Holacracy ist als „Betriebssystem für Organisationen“ konzipiert und verleitet dazu, Organisationen wie Maschinen zu betrachten. Damit geht oft ein starres, rigides Menschenbild einher. Das eigentliche Problem ist aber, wie so häufig, dass der Zweck des Systems, also der Purpose, nicht immer klar wird. Wenn wir nicht verstehen, warum wir mit einem solchen System arbeiten, praktizieren wir effektiv einen Cargo-Kult, wie es auch bei Methoden der Agilität (beispielsweise Scrum) und Methoden der Innovation (beispielsweise Design Thinking) passieren kann. Ich habe an anderer Stelle das Konzept des Cargo-Kults im Detail beschrieben.
Wozu also ein System wie Holacracy nutzen? Ein System kann uns in gewisser Weise „zwingen“, uns nach bestimmten Regeln zu verhalten. Solche Effekte können wir auch in etablierten Unternehmen sehen, denn auch dort finden wir Systeme (im abstrakten, systemtheoretischen Sinn). Diverse Studien zeigen, dass wir in formell-hierarchischen Unternehmen in höheren Führungsebenen überdurchschnittlich viele Menschen mit narzisstischen Störungen oder zumindest sehr dominantem Auftreten finden. Das dortige System belohnt ein entsprechendes, auf die eigene Karriere fokussiertes Verhalten.
Spannungen im System können wir nutzen
Ein neues System kann also eine Starthilfe darstellen, auch wenn diese Art von Zwang nicht unbedingt angenehm ist. Bei uns gab es gerade am Anfang einiges an Reibung, als wir unsere ersten Schritte mit Holacracy gemacht hatten. Zum Teil war es die Kluft zwischen unseren persönlichen Verhaltensweisen und dem Verhalten, das vom System gefordert und belohnt wird. Wer bislang in Meetings gerne Themen durchpeitschen wollte – vielleicht weil er festen Glaubens war, dass sich nur dann auch wirklich etwas bewegt – der wurde durch den festen Meetingprozess schnell eingebremst. Und wer sich bislang nicht getraut hat, Einwände einzubringen und diese zu untermauern, dem führt das System die eigene Passivität vor Augen.
Wenn ein explizites System wie Holacracy oder Soziokratie solche Reibungen offenlegt, können wir mit Retrospektiven und ähnlichen Vorgehensweisen daraus lernen und uns diese bewusst machen. Wir verstehen dann, warum wir uns an bestimmte Prozesse halten sollen, auch wenn es manchmal frustriert. Und wir erkennen, dass wir uns an manchen Werkzeugen reiben, weil unser eigenes, gewohntes Verhalten nicht immer im Interesse der Organisation liegt. Wenn wir den Weg in die Selbstorganisation gehen wollen, müssen wir uns Gedanken machen, welche Verhaltensweisen wir an den Tag legen möchten. Tun wir das nicht, bleiben wir in unserem früheren System gefangen – und reiben uns dauerhaft auf.
Der Mensch im Mittelpunkt statt Technokratie
Manche der Reibungen können aber auch Symptome eines grundlegenden Problems sein. Holacracy ist in der Praxis oft ein sehr gutes Beispiel für einen Irrglauben, der sich sowohl in klassischen Strukturen findet, als auch in Systemen der Selbstorganisation. Es geht um blindes Vertrauen in Technologie und Prozesse – auch wenn es um organisationelle Technologie wie Holacracy oder Scrum geht. In manchen Unternehmen ist es der Glaube, dass das neue Softwaresystem alle Probleme lösen wird. In selbstorganisierten Systemen kann es sein, dass wir uns komplett auf Prozesse und Werkzeuge verlassen – und dabei vergessen, dass das System von Menschen getragen und gepflegt werden muss.
Holacracy ist als System so ausgelegt, dass die Prozesse an entscheidenden Punkten über persönliche Bedürfnisse „drüberbügeln“. Das ist manchmal notwendig, vor allem dann, wenn einzelne Personen nicht im Interesse der Gruppe denken, sondern ihrem Ego freien Lauf lassen. Wichtig dabei ist aber, dass ein dauerhafter Erkenntnisgewinn entsteht. Wenn jemand durch das System „zurechtgewiesen“ wird, sollte auch für alle klar werden, welchen Zweck (oder eben Purpose) das hat. Wird der Zweck nicht ersichtlich, ist die Person frustriert, ändert aber ihr Verhalten nicht. Und da das System fast jeden an der ein oder anderen Stelle zurechtweist, macht sich dann allgemeine Frustration breit – und niemand ändert sich im Verhalten.
Der Grund, warum Selbstorganisation bei uns Erfolg hatte, war die dauerhafte Selbstreflexion. Frustration gab es auch bei uns genug, bei verschiedenen Personen an verschiedenen Stellen. Wir haben aber offen darüber gesprochen, warum das System so gebaut ist, wie es ist. Und wenn uns der Purpose hinter einzelnen Elementen und Werkzeugen nicht klar wurde, oder die Vorgehensweise den Purpose nicht optimal erfüllte – dann änderten wir sie eben ab.
Veränderung ist notwendig, aber anstrengend
Ohne diese Freiheit, das System anzupassen, wäre Selbstorganisation bei uns vermutlich gescheitert. Klar ist, dass wir das System erst gut verstehen müssen, bevor wir Änderungen vornehmen. Aber die Maßgabe von Holacracy, nämlich dass das System ja nicht verändert werden darf, ignoriert den Menschen. Ist die anfängliche Frustration und Reibung ein Zeichen für den Veränderungsschmerz, hat das durchaus einen Wert. Wenn aber mit diesen menschlichen Emotionen nicht umgegangen wird, scheitert das System auf Dauer.
Sehr viel Unbehagen entsteht in selbstorganisierten Systemen durch Veränderung. Das ist erst mal kein Alleinstellungsmerkmal, denn bei uns Menschen sorgt Veränderung fast immer für Unwohlsein – egal in welcher Art von System oder Organisation wir uns befinden. Lesen wir über Selbstorganisation, wird oft auch von einem selbstlernenden System geschrieben, in dem es kein Change-Management mehr braucht. In gewisser Weise stimmt das auch, denn viele Change-Methoden bauen auf dem Gedanken des sogenannten Unfreezing und Refreezing auf. Gemeint ist damit, dass wir eine feste Struktur im Unternehmen auflockern, ändern und dann wieder zementieren. Dieses Konzept von Veränderung hat in einem fluiden, sich ständig verändernden System tatsächlich keinen Platz. Das heißt aber eben auch, dass es eigentlich mehr Veränderung gibt als vorher. Braucht es dann ständige, kleine Change-Prozesse? Meiner Erfahrung nach braucht es eher einen grundlegenden Wandel unserer Erwartungshaltung. Wir müssen uns mit dem anfänglich unguten Gefühl anfreunden, dass wir nie einen Zustand erreichen, in dem ein Thema komplett abgeschlossen ist. Jedes Thema kann jederzeit wieder auf den Tisch kommen, das ist im System so angelegt.
Kleine Schritte statt dem einen großen Wurf
Bei uns zeigte sich dieser Effekt ein paar Monate nach dem Start mit Holacracy. Das komplexe Thema Planung und Erfassung von Arbeitszeit kam immer wieder zur Sprache. Mal war es der eine Kollege, mal eine Kollegin, die das Thema immer wieder, aus verschiedenen Blickwinkeln und Motivationen heraus, auf den Tisch brachten. Ein Kollege sagte dann einmal: „Wir hatten das doch letztes Mal geklärt. Müssen wir da jetzt schon wieder drüber sprechen?“ Und selbst ein Kollege, der das Thema aktiv eingebracht hatte, meinte im Gespräch mit mir: „Ständig beschäftigen wir uns mit denselben Themen… wir drehen uns doch irgendwie im Kreis!“
Tatsächlich ging es durchaus vorwärts, aber eben nicht in Form einer einzelnen, großen, finalen Lösung. Stattdessen haben wir das Thema schrittweise aufgearbeitet und in mehren Iterationsschleifen vorangebracht. Genauso, wie es das System vorsieht. Die Krux daran war unsere Erwartungshaltung: Wenn wir davon ausgehen, dass ein Thema irgendwann komplett abgeschlossen sein muss, das aber nicht schaffen, kommt Frustration auf. Im schlimmsten Fall zerbrechen wir an unserer unrealistischen Erwartung.
Ich und die Anderen
Ein weiterer Reibungspunkt ist die unterschiedliche Geschwindigkeit der Teammitglieder. Selbstorganisation bedeutet auch, dass wir uns mit den Befindlichkeiten, Bedenken und auch den Ideen unserer Kollegen befassen müssen. Hier tun sich gerade dominante Persönlichkeiten sehr schwer. Das kann der Kollege Florian als ehemaliger Selbstständiger sein, der bei GmbH-Gründung zum geschäftsführenden Gesellschafter wurde und immer noch gerne alles allein anschiebt und vorantreibt. Und von den Kollegen erwartet, dass sie aus eigener Kraft mithalten können. Das kann aber auch der Kollege Daniel in der Rolle Lord Admin sein, der sich um den reibungslosen Ablauf der digitalen Prozesse kümmert. Er verzweifelt dann gerne daran, dass die Kollegen länger brauchen, sich in digitale Systeme einzufühlen. In beiden Fällen sieht der Kollege ja schon die perfekte Lösung, die anderen kommen nur nicht hinterher. Wenn dann der Glaubenssatz im Hintergrund steht, dass die anderen vielleicht sogar können, aber nicht wollen – dann entsteht Konfliktpotential.
Hier sind wir dann bei einem Thema der Weltanschauung. Bei uns im Team ist das, denke ich, kein Problem. Und es ist einer der entscheidenden Faktoren, warum die Systeme und Werkzeuge bei uns funktionieren. Wir gehen nicht prinzipiell davon aus, dass Kollegen egoistisch, einfältig oder faul sind – sondern lernfähig und motiviert. Nur sind wir eben nicht alle in sämtlichen Themen auf demselben Entwicklungsgrad, und wir haben nicht immer dieselben Bedürfnisse und Prioritäten. Das zu verstehen, ist eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Selbstorganisation. Und sogar hier können Werkzeuge uns unterstützen, wenn sie speziell für den zwischenmenschlichen Raum gebaut sind.
(Selbst)Organisation braucht einen ganzheitlichen Blick
Ein gedankliches Konzept, das uns viel geholfen hat, ist das der vier Räume. Gemeint sind damit vier essentielle Aspekte einer Organisation, die sich häufig überlagern und gegenseitig bedingen – die wir aber auch getrennt voneinander betrachten können und sollten. Im operativen Raum sind Wirtschaftsunternehmen immer präsent, weil hier das Geld verdient wird. Daneben gibt es aber drei weitere Räume, die über unseren operativen Erfolg und Misserfolg entscheiden: der strukturelle Raum, indem wir uns mit Entscheidungsfindung, Ressourcenverteilung und Organisationseinheiten befassen; der zwischenmenschliche Raum, in dem wir über unseren Umgang miteinander, Kommunikation und Konfliktlösung sprechen; und der individuelle Raum, in dem wir über uns selbst und unser Mindset reflektieren.
Für mich ist das Bild der vier Räume eine perfekte Zusammenfassung unserer Erfahrungen, die wir auch genauso in unser Buch Future Fit Company einfließen haben lassen. Um mit der Komplexität der Selbstorganisation zurechtzukommen, braucht es Aufmerksamkeit in allen vier Räumen. Es braucht genauso viel Struktur wie auch Fokus auf den Mensch und das dahinterstehende Mindset.
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