Vor drei Jahren haben wir uns bei creaffective von einem klassisch organisierten Kleinunternehmen zu einem selbstorganisierten Unternehmen gewandelt. Wir haben Anfang 2016 Holacracy, zu deutsch Holakratie, eingeführt und ich habe mich nach innen als Geschäftsführer abgeschafft. Mitte 2016 haben wir aus drei unterschiedlichen Perspektiven eine erstes Resümee (nach den ersten Gehversuchen) veröffentlicht (Artikel 1, Artikel 2, Artikel 3).

Nun sind knapp drei Jahre vergangen und es hat sich viel verändert, sowohl in unserem Umfeld als auch im Inneren. In Gesprächen und aus Veröffentlichungen habe ich von vielen Unternehmen erfahren, die nun beginnen mit Elementen der Selbstorganisation zu arbeiten. Gleichzeitig sind viele desillusioniert und haben ihre Versuche wieder beendet.

Mit nun drei Jahren Erfahrung als selbstorganisiertes Unternehmen möchten wir unsere Erfahrungen und Erkenntnisse erneut aus drei Perspektiven teilen. Den Anfang mache ich als Gründer und ehemaliger Geschäftsführer.

Holacracy ade – willkommen Sociocracy 3.0

2015 hat mich das Buch Reinventing Organizations von Frederic Laloux sehr stark beeinflusst. Dort wurde Holacracy als das System vorgestellt, um von einem klassisch pyramidal organisierten Unternehmen zu einem selbstorganisierten Unternehmen zu werden. Für mich schien es 2015, auch nach längeren Recherchen, als wäre Holacracy das Vorgehen der Wahl. Im Gegensatz zu anderen Vorgehensweisen, die nur aus unvollständigen Fragmenten bestanden, bot Holacracy ein durchdachtes und vollständiges Vorgehen an, um ein Unternehmen dezentral zu organisieren, große Klarheit zu schaffen und eine dynamische Steuerung zu ermöglichen. Für uns lag es damals daher nahe, es mit Holacracy zu versuchen.

Drei Jahre später sind wir immer noch vollständig selbstorganisiert, haben uns jedoch von der reinen Holacracy-Lehre – wie in der holakratischen Verfassung vorgegeben – verabschiedet und arbeiten nun mit einem deutlich flexibleren Ansatz, der sich Sociocracy 3.0 nennt.
Wie viele andere Unternehmen, die mit Holacracy experimentieren, haben wir nach einem guten Jahr festgestellt, dass deren „one-size-fits-all“-Ansatz eben nicht für alle Unternehmen passt. In unserem Fall waren wir der Meinung, es in vielerlei Hinsicht besser zu können als es in Holacracy vorgesehen war. Wir empfanden es so, dass Holacracy durch seine definierten Prozesse uns in unserem Potenzial beschnitt. So begannen wir 2017 gemeinsam erste Veränderungen einzuführen, die aus unserer Arbeit mit Innovationsprozessen inspiriert war. Zur gleichen Zeit stieß ich auf Sociocracy 3.0, eine Alternative und Weiterentwicklung von Systemen wie der klassischen Soziokratie und Holacracy, die sich wiederum aus der klassischen Soziokratie entwickelte. Der Ansatz der Entwickler von Sociocracy 3.0 war uns von Anfang an sympathisch, weil er von ähnlichen Prämissen ausgeht: Es gibt grundlegende Prinzipien, die sinnvoll sind für Selbstorganisation. Ein alles-oder-nichts-Ansatz bei dem man ein System genau wie vorgeschrieben übernehmen muss, funktioniert jedoch vermutlich nur für die wenigsten Unternehmen.

Unsere Rollen bei creaffective

Wir begannen uns in Sociocracy 3.0 fortzubilden und traten in einen intensiven Dialog mit den Vordenkern des Ansatzes. Ab Mitte 2017 fingen wir an sogenannte „Interaktionsmuster“ von Sociocracy 3.0 einzuführen. Unsere bis dato holakratische Organisation bauten wir damit schrittweise um.

Die Veränderungen von Holacracy zu Sociocracy 3.0

Wenn ich nun auf die Entwicklungen der letzten zwei Jahre zurückblicke, dann hat sich in Summe sehr viel verändert, obwohl es meist immer nur kleine Schritte waren. In Summe führen diese jedoch zu einer deutlich anderen Organisation.

Wir haben sehr viele Details verändert, wie wir uns organisieren und entscheiden. Besonders zu erwähnen sind aus meiner Sicht:

  • Vorschläge gemeinsam erarbeiten: Sowohl in Holacracy als auch in Sociocracy 3.0 gibt es ein sogenanntes Governance Meeting, eine Besprechung in der ein Team an der Struktur und den für alle geltenden Regeln arbeitet und diese verändert. Dazu wird ausgehend von einer Spannung, die ein Mitglied der Organisation wahrnimmt ein Vorschlag zur Veränderung entwickelt, über den dann abgestimmt wird. Holacracy geht davon aus, dass dieser Vorschlag von einer Person, meist dem Inhaber der Spannung, erstellt wird. Oft macht es jedoch Sinn Vorschläge ko-kreativ zu erarbeiten. Dazu eigenen sich vereinfachte Formen der von uns in unseren Trainings und Workshops eingesetzten Kreativprozesse.
  • Konsent-Entscheidungen statt Integrative Decision Making: Holacracy nutzt in den Governance Meetings das sogenannte Integrative Decision Making, das im Kern auf dem aus der klassischen Soziokratie bekannten Konsent-Verfahren aufbaut und dieses durch eine Reihe von Checkfragen erweitert, um mögliche Einwände gegen einen Vorschlag zu vertesten. Dies kann gut für sehr dysfunktionale Organisationen funktionieren, in welchen diese rigide Struktur überhaupt wieder für Entscheidungsfähigkeit sorgt. In Sociocracy 3.0 wird ein deutlich flexibleres Konsent-Verfahren mit Einwandbehandlung genutzt, dass sich deutlich natürlicher anfühlt.

    Die drei Handgesten der Konsent-Entscheidung

  • Kein Leadlink mehr: In Holacracy gibt es als eine feste Rolle den sogenannten Leadlink, eine Rolle, deren Kompetenzen teilweise an eine klassische Führungskraft erinnern und dem Rolleninhaber bei Bedarf die Möglichkeit geben, Entscheidungen über Teammitglieder hinweg zu treffen, ohne diese dabei einzubinden. Diese Rolle ist in unserer täglichen Arbeit über die letzten Jahre einfach immer irrelevanter geworden, weil wir eine Kultur entwickelt haben, wirklich auf Augenhöhe miteinander zu entscheiden.

Erkenntnisse nach drei Jahren Selbstorganisation

In meinem Zwischenfazit aus 2016 habe ich bereits einige Lektionen für mich zusammengefasst. Diese sind für mich immer noch relevant. Ein paar Dinge haben sich in den letzten zwei Jahren noch einmal besonders für mich gezeigt.

Person und Gruppe

Holacracy als „organisationales Betriebssystem“ beschäftigt sich zum einen mit operativen Aspekten eines Unternehmens, also der Frage, wie wir täglich zusammenarbeiten und uns organisieren. Zum anderen verändert Holacracy die Art wie eine Organisation strukturiert ist und wie Entscheidungen getroffen werden. Der einzelne Mensch und die Menschen als soziale Gruppe werden von Holacracy dabei einfach als gegeben angenommen, aber nicht weiter adressiert. Für uns hat sich in den letzten Jahren noch einmal bestätigt, wie wichtig es ist, bewusst auch den einzelnen Menschen und dessen Motivationen und Bedürfnisse zu betrachten und gemeinsam an unseren Kompetenzen der Konfliktfähigkeit und der wertschätzenden Kommunikation zu arbeiten. Selbstorganisation lebt aus meiner Sicht davon, dass Menschen unangenehme Situationen sehr schnell ansprechen und im Team zu Thema machen, um diese zu lösen. Es gibt niemanden mehr, wo man diese Spannung hin-eskalieren könnte.

Freiheit und Kontrolle

Einige Menschen glauben in einem selbstorganisierten Kontext gibt es keinerlei Kontrolle mehr und jeder ist komplett frei und selbstverantwortlich.
Kontrolle gibt es nach wie vor, die Form und die Intention ist jedoch eine andere.
Anstelle eines Vorgesetzten, der die Arbeitsergebnisse kontrolliert oder womöglich kontrolliert, ob Mitarbeiter überhaupt arbeiten, findet Kontrolle in einem selbstorganisierten Kontext vor allem über Transparenz und soziale Kontrolle statt. Es ist für die anderen ersichtlich an welchen Themen Kollegen arbeiten. Jeder kann jederzeit nachfragen und Kollegen müssen Auskunft geben. Wir haben bei uns für einige Themen ein Vier-Augen-Prinzip eingeführt, nicht weil wir uns gegenseitig nicht vertrauen, sondern, weil Menschen nun Mal Fehler machen und wir durch ein zweites Augenpaar die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese entdeckt werden. Dies ist bei Dingen wie Angeboten oder Texten sehr sinnvoll.
Wir haben außerdem regelmäßige Review- und Feedbacktermine eingeführt, wo wir gemeinsam zu einem Thema (z.B. der persönlichen Arbeitsorganisation) reflektieren und uns gegenseitig Rückmeldung geben, wo wir uns verbessern können.

Auf die Menschen kommt es an

Die zwei oben genannten Aspekte machen vielleicht schon ganz deutlich, dass es hierbei sehr auf den Einzelnen in der Organisation ankommt. Wenn jemand sich scheut Konflikte anzusprechen, dann werden diese nicht angesprochen. Wenn sich jemand hinter seiner Rolle verstecken möchte und sich wenig einbringt, dann kann er / sie das tun. Es liegt dann an den Kollegen, die Person darauf anzusprechen. Damit dies passiert, ist es wichtig, dass es einen gemeinsamen Zweck und ein gemeinsames Committment gibt, das den Menschen so wichtig ist, dass sie sich für die Organisation und das Team einsetzen. Das ist in einem selbstorganisierten Kontext aus meiner Sicht noch einmal wichtiger als in klassisch organisierten Unternehmen.

Praktiken konkret ausprobieren am 21.5.2019

Wir von creaffective glauben, dass Elemente von Selbstorganisation in Zukunft immer wichtiger werden, um dynamische und schnell reagierende Organisation zu ermöglichen.
Unsere Erkenntnisse und konkrete Vorgehensweisen haben wir auch in unserem neuen Buch Future Fit Company zusammengefasst.

Am 21.5.2019 bieten wir in München für interessierte Entscheider, Macher und Veränderer aus Organisationen die Möglichkeit mit uns zu diskutieren und einige konkrete Werkzeuge und Möglichkeiten zu erleben. Melden Sie sich an und sein Sie dabei! Wir freuen uns auf Sie.

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