Säulen-Holacracy

Wer will Holacracy?

Anfang November hat unser Kollege Florian Rustler bereits einen Artikel verfasst, in dem er unsere Erfahrungen mit Holacracy (aus seiner Sicht) beschrieben hat. Als Geschäftsführer hatte er eine andere Perspektive, andere Erwartungen und natürlich auch andere Verpflichtungen als wir übrigen Gesellschafter bzw. Angestellte. Wann immer man in Zeitungen und Magazinen über das Thema liest, wird tendenziell über die Leute „ganz oben“ und die Leute „ganz unten“ gesprochen, manchmal über beide gleichzeitig, manchmal auch nur über eine der Gruppen. Dass häufig auch Kampfbegriffe wie Demokratie und Mitbestimmung in den Raum geschmissen werden, hilft meistens nicht, zumal Holakratie – wie der Name schon sagt – nichts mit dem demokratischen System, so wie wir es heute verstehen, zu tun hat. Holakratie ist eine alternative Form der Organisation, der Machtverteilung und der Entscheidungsfindung, und zwar alternativ sowohl zu den üblichen, pyramiden-förmigen Organisationen, als auch zum demokratischen Staatsmodell.
Und es verändert die Denk- und Arbeitsweisen eines jeden Mitarbeiters, egal in welchem Bereich und auf welcher (gedachten) Hierarchieebene.

Am Anfang stand das geschriebene Wort

Für uns begann der Wandel mit Büchern. Wir hatten uns bereits seit einer längeren Weile mit dem Thema Innovationskultur beschäftigt, und uns war klar geworden, dass sich auch die Strukturen des Unternehmens anpassen müssen. Gleichzeitig spürten wir auch, dass wir, wenn creaffective erfolgreich und gesund wachsen soll, uns mit dem Thema Arbeitsorganisation unabhängig von unseren Beratungsangeboten beschäftigen müssen.
Ich selbst hatte bereits das Buch Maverick gelesen, von Ricardo Semler. Der Brasilianer mit österreichischen Wurzeln hatte das Familienunternehmen (früher Semco Group, jetzt Semco Partners) von seinem Vater übernommen und begann bereits in den 80er Jahren mit dem Organisationsdesign zu experimentieren. Er war stark von japanischen Vorbildern beeinflusst, die zur damaligen Zeit Vorreiter darin waren, die Arbeit von Teams auf der operativen Ebene stärker in Richtung Selbstorganisation zu treiben. Er ging schnell darüber hinaus und stellte fest, dass sich im Idealfall die gesamte Unternehmensstruktur anpassen muss. Ich fand seine Schilderungen sehr spannend, erkannte damals aber noch keinen Handlungsbedarf.
Erst als wir die Bücher Reinventing Organizations von Frederic Laloux und Holacracy von Brian Robertson gelesen hatten kam der Gedanke und auch der Wunsch auf, selbst mit diesen Konzepten zu arbeiten. Die Logik hinter den Konzepten und die damit verbundenen Vorgehensweisen und Prozesse empfand ich als sehr einleuchtend und sehr klar. Wir hatten natürlich auch eine gewisse Berührung mit ähnlichen Methoden, da wir in Workshops und Projekten stark prozessgesteuert arbeiten und selbst als Facilitator tätig sind – beides sind Grundsteine sowohl von Holacracy als auch von anderen Modellen. Wir hatten unsere Affinität zu den Methoden, unser Vorwissen und unsere kleine Größe zum Vorteil. Außerdem glaubten wir, dass wir ja schon „in ähnliche Richtung gearbeitet“ hatten, der Sprung also gar nicht so groß sei.
Dementsprechend stand die Überlegung im Raum, ob wir es nicht einfach selbst ausprobieren sollten.

Von der Theorie in die Praxis

Der Einwand gegen das komplett selbstgesteuerte Experiment war der, dass wir Anfängerfehler vermeiden können, wenn wir von der Erfahrung anderer lernen und uns an einem bestehenden System orientieren. Die Wahl viel auf Holacracy, das wir dann mit der Unterstützung eines Coaches im Mai diesen Jahres entsprechend eingeführt haben.
Wir mussten früh feststellen, dass manche unserer vorher getroffenen Annahmen falsch waren. Die Affinität war da und half uns sicherlich weiter; gleichzeitig erforderte es nochmal eine gehörige Portion Disziplin, unsere internen Arbeitsprozesse entsprechend anzupassen. Gerade unser Verhalten in Meetings entsprach noch nicht der gewünschten Struktur. Es war eben doch ein Unterschied, ob man als Facilitator, der auf methodischer Ebene betreut, eine „fremde“ Gruppe betreut und unterstützt, oder ob man mit ganz eigenen Themen arbeitet. Es steht ja auch bei jedem Meeting einiges auf dem Spiel: Je nach Resultat des Meetings gehe ich mit deutlich mehr Arbeit nach Hause, als vorher schon auf meinem Schreibtisch lag.
Besonders erhellend war die Erkenntnis, dass wir vorher so gar nicht nach holakratischen Prinzipien gearbeitet hatten. In vielen Situation war unklar, wer entscheiden darf und soll; also hat der GF dann doch das letzte Wort gehabt. Das war zwar sicherlich weniger autoritär als in anderen Firmen, aber in vielen Fällen genauso sehr durch die persönliche Meinung des Menschen hinter der Position geprägt. In anderen Fällen hat sich gar niemand getraut, eine Entscheidung zu treffen; also gingen wir auf Konsens-Suche. Bei früher drei Köpfen war das noch möglich, aber selbst damals war es nicht effizient, und zudem noch häufig unbefriedigend für alle Beteiligten.
Trotz allem: Der Einstieg fiel uns, im Vergleich zu vielen anderen Unternehmen, doch eher leicht. Die kleine Unternehmensgröße half, und wir hatten alle den Willen und die Bereitschaft, uns mit den neuen Strukturen auseinanderzusetzen. Genauso war uns allen bewusst, dass wir das System ergänzen und modifizieren müssen, wenn wir Lücken oder Schwachpunkte sehen, oder wenn wir die Grenzen des Systems überschreiten müssen.

Das rechtsstaatliche Unternehmen

Mittlerweile läuft das System schon einigermaßen rund. Die Meetings erfüllen ihren Zweck, sind effizient und finden sogar halbwegs regelmäßig statt. Gerade letzteres ist durch unsere stark asynchrone Arbeitsweise (zeitlich und örtlich) durchaus eine Herausforderung. Spannend für mich sind die Veränderungen, die wir beobachten, sowohl in den Strukturen (das Fleisch), als auch in den Personen (der Geist).
Brian Robertson beschreibt in seinem Buch Holacracy, wie die Idee des modernen Rechtsstaates eine der Inspirationsquellen für diese Art der Organisation sei. Nicht das Wahlsystem, das spielt in Holacracy keine Rolle. Sondern die Verschriftlichung von Regeln, auf staatlicher Ebene die Verfassung und die Gesetzestexte. In der Gesellschaft wird jeder gezwungen, nach denselben Regeln zu spielen, aber innerhalb dieser Regeln trägt jeder selbst die Verantwortung für Tun und Nicht-Tun. Umsichtig erlassene Gesetze unterstützen so beispielsweise auch unternehmerisches Denken und Handeln. In Unternehmen hingegen werden Freiräume dadurch beschnitten, dass die nächsthöhere Ebene nicht nur sagt, was zu tun ist, sondern häufig auch wie. Und da die oberste Ebene absolute Kontrolle haben möchte, muss jeder über alles Rechenschaft ablegen und selbst bei kleinen Budgets um Erlaubnis bitten. Der Kontrast ist deutlich: Im privaten Bereich verfügt jeder über sein Vermögen, verwaltet Häuser und Autos, trifft Entscheidungen, erzieht Kinder, gründet Unternehmen; als Angestellter in einer Firma erlaubt es das System aber nicht, eigene Entscheidungen zu treffen.
Tatsächlich etabliert sich bei uns langsam aber sicher eine ähnliche Struktur wie in einem Rechtsstaat. Wir halten schriftlich fest, welche gemeinsamen Regeln zu gelten haben, wie bestimmte Aktivitäten eingeschränkt sind, und wer die Verantwortung für bestimmte Themen trägt. Die Governance Meetings werden so im wahrsten Sinne des Wortes zu legislativen Veranstaltungen, an deren Ende neue Gesetzestexte stehen, die für alle verbindliche Klarheit schaffen. Und wer sich in seiner Arbeit durch eine Regelung gegängelt fühlt, kann in eben einem solchen Meeting Änderungen vorschlagen und, in der Regel, auch durchführen.

Der Mitarbeiter-Bürger

Immer wieder kommen natürlich Themen auf, die noch nicht erfasst sind, häufig weil sie außerhalb der Verantwortung bestimmter Rollen liegen. Hier müssen wir uns dann den Kopf zerbrechen, ob wir das Thema durch die eigene Governance bearbeiten können, oder ob es außerhalb der Reichweite von Holacracy als System liegt. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir uns mehr und mehr mit der Art des Denkens vertraut machen, die hinter dem System steht. Eine der größten Veränderungen auf persönlicher Ebene war sicherlich die Übernahme von Verantwortung. Was sich so leichtfertig dahinschreibt ist in der Umsetzung umso schwerer. Wer nämlich Verantwortungen ganz klar in einzelnen Rollen festlegt, der erwartet auch, dass die Person hinter der jeweiligen Rolle entsprechend selbstständig und eigenverantwortlich agiert. Da kommt schon immer mal wieder ein mulmiges Gefühl auf, wenn man eine Entscheidung treffen muss, die die Firma Geld kostet oder die anderen Mitarbeiter tangiert.
Die Floskel, dass so „jeder Mitarbeiter zur Führungskraft“ wird, trifft es gar nicht so schlecht. In den meisten Strukturen ist Entscheidungsverantwortung das wichtigste Kriterium für eine Führungsposition. Holacracy sorgt insofern dafür, dass die Entscheidungsverantwortung im Unternehmen verteilt wird, Entscheidungen also dort getroffen werden, wo sie erforderlich sind. Damit löst Holacracy auch den grundlegenden Widerspruch auf, den ich weiter oben beschrieben hatte. Ein selbstorganisiertes Umfeld erfordert mündige, eigenverantwortliche Mitarbeiter, so wie ein funktionierender Rechtsstaat mündige, eigenverantwortliche Bürger braucht. Der einzige Unterschied: In einem System wie Holacracy wirkt jeder einzelne bei der Gestaltung der Gesetze mit.
Vielleicht braucht unsere Gesellschaft etwas mehr Selbstorganisation?