Unternehmen dezentraler zu organisieren ist eine Antwort auf die zunehmende Dynamik sich verändernder Märkte im Zeichen der Digitalisierung. Firmen erkennen, dass die hierarchische Struktur in einem sich schnell verändernden Umfeld an Grenzen kommt. Einfach dadurch, weil sie zu langsam ist und das Unternehmen nicht schnell genug auf die Veränderungen reagieren kann. Aus diesem Grund versuchen Unternehmen sich dezentraler zu organisieren. Eine sehr weitreichende Form dieser dezentralen Organisation sind sogenannte selbstorganisierte Unternehmen bei denen Autorität und Entscheidungsbefugnisse nicht mehr – wie in der klassischen Hierarchie – auf wenige Personen ganz oben in der Pyramide konzentriert sind, sondern auf viele Personen verteilt sind. Man spricht von Systemen verteilter Autorität.

Dabei kommt von Kritikern immer wieder der Einwand, dass ja am Ende eine Person verantwortlich sein muss.
In einem Interview im Handelsblatt vom 28.7.17 mit dem Philosophen und Ex-Minister Julian Nida-Rümelin ging es um den „Ethik-GAU“ der Autoindustrie und dann auch um genau diese Frage:

Manager sind eben oft keine Gestalter, sondern Getriebene.


Was hier wohl eine Rolle spielt, ist, dass die riesigen Apparate der multinationalen Konzerne kaum noch steuerbar sind. Es gilt in Konzernen ja als modern, Hierarchieebenen einzudampfen und schlanke, teilautonome Bereiche zu schaffen. Das läuft ja anders als in Ministerien, wo ganz klar ist, wer für was verantwortlich zeichnet, welche Akte über welchen Schreibtisch gelaufen ist. Das habe ich in meiner Rolle als Kulturstaatsminister im Kanzleramt selbst erlebt. Man muss jetzt darüber sprechen: Was ist eigentlich mit der Verantwortungsdiffusion durch Dezentralisierung? So sympathisch es klingt, wenn jeder im Unternehmen seine Gestaltungsspielräume hat: Am Ende ist niemand mehr zur Verantwortung zu ziehen.

Sie empfehlen ernsthaft das Kanzleramt als Managementmodell?


Nein, aber jedenfalls klare Verantwortungsstrukturen.“

In meinem aktuellen Buch „Innovationskultur der Zukunft“ untersuche ich die Funktionsweise von selbstorganisierten Unternehmen mit einer sogenannten „agilen Aufbauorganisation“. Diese Unternehmen sind im Gegensatz zu den klassischen Organisationen nicht-pyramidal – also dezentral – organisiert und haben Autorität und Entscheidungsbefugnisse verteilt. Das bedeutet, dass Entscheidungen, die in anderen Unternehmen nur der Geschäftsführer treffen kann, in diesen Unternehmen teilweise auch von anderen Personen getroffen werden können. Führt eine solche Organisationsform automatisch dazu, dass Verantwortung diffundiert, wie Nida-Rümelin vermutet? Kann am Ende jeder alles machen und ist niemand mehr zur Verantwortung zu ziehen?

Juristische und praktische Verantwortung

Rein rechtlich ist es in bisher fast allen Ländern der Welt so, dass die Unternehmensgesetze die Benennung einer verantwortlichen Person oder Personengruppe vorschreiben. Bei einer GmbH in Deutschland müssen ein oder mehrere Geschäftsführer benannt werden. Diese können juristisch zu Rechenschaft gezogen werden. In Aktiengesellschaften sind dies vereinfacht gesagt der Vorstand und der Aufsichtsrat.
Im Moment gibt es juristisch noch keine Möglichkeit, Unternehmen abzubilden in denen alle verantwortlich sind oder es zumindest nicht eine definierte Gruppe gibt. Gleichzeitig ist diese Tatsache ein realer täglicher Spagat in dem sich alle selbstorganisierten Unternehmen bewegen. Aus der Perspektive der rechtlichen Rahmenbedingungen gibt es selbstorganisierte Unternehmen im Moment nicht. In der täglichen Praxis gibt es jedoch mehr und mehr selbstorganisierte Firmen, die diesen Spagat aushalten müssen. Spezialisierte Beratungsunternehmen wie encode.org arbeiten weltweit mit Juristen zusammen, um tragfähige rechtliche Konstrukte zu finden, die Selbstorganisation auch juristisch ermöglichen.

Aus eigener Unternehmenspraxis in meinem selbstorganisierten (holakratischen) Unternehmen creaffective weiß ich, dass ein Großteil der täglich getroffenen Entscheidungen die Frage der juristischen Haftbarkeit gar nicht berührt. Gleichzeitig gibt es Verträge, die nur ich als juristischer Geschäftsführer unterschreiben darf.
Aus unternehmenspraktischer Perspektive ist ja auch heute bereits schon eine Tatsache, dass in vielen Unternehmen, diejenigen, die gewisse Dokumente formal unterschreiben müssen (und damit juristisch verantwortlich sind) gar nicht mehr vollständig durchdringen können, was sie eigentlich unterschreiben. Schlichtweg deshalb, weil es zu viele zu komplizierte Inhalte gleichzeitig gibt. Dies ist ja genau ein Grund, warum Unternehmen nach Alternativen zum hierarchischen System suchen. Es ist unrealistisch, dass eine kleine Gruppe von Entscheidern zeitnah gute Entscheidungen in so vielen Themen gleichzeitig trifft. In der Presseberichterstattung zum Diesel-Skandal bei VW wurde ja auch immer die Frage diskutiert, was der Vorstand wann wusste. Dies impliziert auch, dass der Vorstand unmöglich alles wissen kann und dass er bei klaren Gesetzesverstößen, für den Fall dass er nichts wusste, nicht persönlich haftbar gemacht werden kann. Wenn ein Unternehmen gegen das Gesetz verstößt, ist das immer strafbar. Wenn es sich um einen klaren Rechtsverstoß handelt, dann können ja auch, wie im Falle von VW, einzelne Manager zur Verantwortung gezogen werden, die mit ihrem Verhalten gegen das Gesetz verstoßen haben und nicht die Mitglieder des Vorstands.

Der zweite Aspekt der in Nida-Rümelins Aussagen zur Sprache kommt sind die „klaren Verantwortungsstrukturen“. Dies ist nicht gleichzusetzen mit juristischer Verantwortung. Es bedeutet in meinem Verständnis, dass man klar nachvollziehen können muss, wer für bestimmte Entscheidungen intern verantwortlich ist. Es geht um die Zuordnung von Entscheidungen zu Personen. Wie erwähnt, haben die meisten Entscheidungen in einem Unternehmen aus meiner Erfahrung nur selten juristische Relevanz und berühren Haftungsfragen. Dennoch spielen sie für den unternehmensinternen Ablauf eine große Rolle.

Verantwortlichkeiten lassen sich in selbstorganisierten Unternehmen sehr gut definieren und nachverfolgen! Bestimmte Spielarten der Selbstorganisation zeichnen sich sogar dadurch aus, dass sie deutlich klarer sind als die meisten klassisch organisierten Firmen, wo viel implizit geregelt ist.
In Systemen der Selbstorganisation wie zum Beispiel der Holakratie werden alle Tätigkeiten in einem Unternehmen in explizierten Rollen festgehalten. Zu jeder Rolle gibt es einen klaren Zweck, warum diese Rolle existiert und klare, schriftlich festgehaltene und für alle einsehbare Verantwortlichkeiten. Verantwortlichkeiten bedeutet hierbei, dass jemand die in den Verantwortlichkeiten festgehaltenen Aspekte von einer Rolle erwarten darf und davon ausgehen kann, dass der Rolleninhaber sich darum kümmert. In der Holakratie heißt dies aber nicht, dass es niemand anderes tun darf. Wenn jemand zum Beispiel die Verantwortlichkeit hat „sicherzustellen, dass der Toner im Kopiergerät regelmäßig gewechselt wird“, dann kann ich vom Rolleninhaber erwarten, dass er / sie dies tut. Wenn nun der Kopierer blinkt und nach neuem Toner ruft, ist es jemandem anderes nicht verboten den Toner zu wechseln, auch wenn er die entsprechende Rolle nicht innehat. Für den Fall, dass nur eine Person etwas tun darf und ohne dessen Zustimmung niemand anderes „reinpfuschen“ darf, gibt es in der Holakratie den Begriff der „exklusiven Autorität“. Themen die hierunter fallen, dürfen nur vom jeweiligen Rolleninhaber entschieden oder verändert werden beziehungsweise nur mit expliziter Erlaubnis des Rolleninhabers von anderen Personen getan werden. Auch ein ehemaliger Vorgesetzter kann hier nicht reinregieren. Wenn eine Rolle also eine Autorität über das Wechseln von Toner hat, dann darf nur diese Person den Toner wechseln beziehungsweise muss um Erlaubnis gefragt werden.

In diesem selbstorganisierten System ist extrem klar, wer für was verantwortlich ist. Klarer als in den meisten traditionell organisierten Unternehmen, wo dies oft nur implizit der Fall ist. Dort kommt es dann genau zu dem Verhalten, dass Nida-Rümelin kritisiert hat: Zur Verantwortungsdiffusion. Alle schieben die Entscheidung eine Ebene höher, weil keiner dafür verantwortlich sein möchte und es im Zweifelsfall der Chef machen sollte und am Ende dann auch muss.

Selbstorganisation kann also genau wie im Ministerium zu ganz klaren Verantwortlichkeiten führen, deutlich klarer als im Status Quo der meisten Firmen und gleichzeitig eine größere Flexibilität und Geschwindigkeit als hierarchische Organisationen ermöglichen.

Am Ende muss doch aber juristisch einer den Kopf hin halten, oder? Im momentanen Rechtssystem, ja. Ist dies ein Grund, Firmen nicht dezentraler zu organisieren?
Ich schließe mit einem Zitat von Nida-Rümelin aus dem gleichen Interview:

„Lässt sich ein System bauen, das unabhängig von den Charaktereigenschaften der Spieler funktioniert? Ich sage ganz klar: Nein. Ich habe nichts gegen Regeln und Sanktionen. Aber die Vorstellung, man könne ethisches Verhalten dadurch erzwingen, dass man es für die Menschen in jeder einzelnen Situation vorteilhaft macht, diese Regeln einzuhalten, ist geradezu beängstigend. […] Meiner Erfahrung nach wissen die meisten Praktiker aus dem Management sehr wohl, wie wichtig ethische Regeln sind: Wahrhaftigkeit, Vertrauen, Verlässlichkeit, Integrität.“

In der Selbstorganisation spricht man von einem „Spiel für Erwachsene“: Ich vertraue (!) darauf, dass sich Menschen verantwortungsvoll verhalten und sich wie Erwachsene benehmen. Es wird immer Menschen geben, die dieses Vertrauen missbrauchen und diese werden vermutlich jedes noch so ausgeklügelte Kontrollsystem austricksen.
Hätte in einem selbstorganisierten System der Dieselskandal nicht statt gefunden? Nicht unbedingt, auch hier ist Missbrauch grundsätzlich möglich. Es wäre vermutlich leichter herauszufinden, wer wann welche Entscheidung getroffen hat und treffen hat dürfen.