Im Mai 2016 haben wir uns bei creaffective entschlossen das System Holacracy in unserer Organisation einzuführen.
Für alle Leser, denen der Begriff nichts sagt: Holacracy ist ein System der Selbstorganisation mit verteilter Autorität.
Anstelle klassisch-hierarchischen Struktur mit zunehmender Machtfülle am oberen Ende der Pyramide, ist bei Holacracy die Autorität verteilt. Arbeit ist ein Rollen mit klaren Verantwortlichkeiten, Rechten und Autoritäten gegliedert. Ein Mitarbeiter hat dabei meist mehrere Rollen, die eigenverantwortlich und selbstgesteuert ausfüllt. Jeder trifft im Rahmen seiner Rollen eigenverantwortlich in einem definierten Rahmen Entscheidungen und muss dafür niemanden um Erlaubnis fragen und es gibt auch niemanden, der dagegen ein Veto einlegen könnte, wie klassischerweise ein Vorgesetzter oder Geschäftsführer. Bestimmte Entscheidungen, die in die Autorität einer anderen Rolle eingreifen, müssen mit der Person besprochen werden, die eine bestimmte Rolle ausfüllt und von dieser Person getroffen werden.
Darüber hinaus gibt es einen definierten Entscheidungsfindungsprozess (Governance-Prozess), wie die Struktur der Organisation verändert und angepasst werden kann.
Wenn Ihnen das nun irgendwie ganz anders vorkommt als in den meisten Unternehmen, dann haben Sie recht. Wenn Ihnen beim Lesen der obigen Zeilen so einige Zweifel kommen, dann kann ich das gut nachvollziehen.
Als ehemaliger (und auf dem Papier nach wie vor existierender) Geschäftsführer habe ich unsere Reise Anfang des Jahres initiiert und möchte daher heute als erster mit meiner persönlichen Rückschau starten. Zwei meiner Kollegen werden in weiteren Artikel ihre Sicht der Dinge darstellen.
Warum eigentlich?
Auslöser mich mit Prinzipien der Selbstorganisation stärker zu beschäftigen war das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux. Dort wurden eine ganze Reihe von Organisationen vorgestellt, die sich in vielerlei Hinsicht von der pyramidal-hierarchischen Struktur unterscheiden, die nach wie vor Standard in 98% aller Unternehmen ist, Matrixorganisation und agil hin oder her.
Für mich war damals besonders interessant, dass Prinzipien der Selbstorganisation eine Innovation darstellen, in der Art wie Unternehmen strukturiert sind. Trotz aller Bemühungen um Innovation war das grundlegende Strukturprinzip von Organisationen bisher nie Gegenstand der Innovationsbemühungen. Daher passt das zu uns als Beratungsunternehmen mit Fokus auf Kreativität und Innovation.
Der zweite Grund war ein sehr persönlicher. Als Geschäftsführer habe ich mich ja faktisch selbst entmachtet und mein Baby (creaffective), das ich 8 Jahre aufgebaut habe, aus der Hand gegeben. Als ehemaliger Selbstständiger – und in den ersten Jahren von creaffective – One-Man-Show, wollte ich trotz inzwischen eines Teams noch viel stärker weg von „selbst“ und „ständig“. Meine Kollegen haben zwar creaffective auch vor Holacracy als sehr un-hierarchisch beschrieben, trotzdem war es in der Praxis jedoch so, dass viele Entscheidungen ich als Gründer und Geschäftsführer getroffen habe oder diese zumindest mit mir abgestimmt wurden. Rückblickend unter anderem auch, weil nicht klar war, was wer entscheidet.
Die Aussicht creaffective viel stärker von meiner Person unabhängig zu machen und mich damit zu entlasten fand ich sehr attraktiv und deshalb habe ich Holacracy als Versuch vorgeschlagen. Schön war, dass das komplette Team Lust hatte, es auszuprobieren.
Am aller wichtigsten und auch sicherlich mit am schwersten sich einzugestehen, ist die Tatsache, dass ich alleine sicherlich nicht die besten Entscheidungen treffe und das Unternehmen viel weiter kommen kann, wenn andere noch stärker Einfluss nehmen.
Und heute?
Um es kurz zu sagen: Ich bereue es nicht, den Schritt gewagt zu haben. Es war bis hierher weit weniger anstrengend als ich es zu Beginn befürchtet hatte. Schmerzfrei war es jedoch auch nicht. Ich bin sehr froh, dass wir für die ersten Monate mit Joan von Denk(e)Mensch, einen Coach hatten, der uns bei den ersten Schritte unterstützt hat.
Ich empfinde es so, dass das System nun richtig an Fahrt aufgenommen hat und wir uns an die Meeting- und Entscheidungsstrukturen gewöhnt haben und nun in vielerlei Hinsicht auch an Geschwindigkeit gewonnen haben, einfach auch dadurch, dass ich persönlich bei ganz vielen Entscheidungen einfach nicht mehr gefragt werde.
Gleichzeitig finde ich es sehr spannend zu sehen, wie die Kollegen im Rahmen ihrer Rollen, ihre Arbeitsinhalte vorantreiben und wir uns alle immer wieder positiv (und fast nie negativ) überraschen.
Die Forschung sagt es ja schon seit langem: Ein sinnstiftender Zweck der Organisation und entsprechende Autonomie bringen Motivation und Engagement in Menschen hervor. Nun kann ich erleben, was das in der Praxis bedeutet.
Sehr hilfreich und angenehm empfinde ich die große Klarheit in Hinblick auf Zuständigkeiten und Tätigkeiten, zu der man durch Holacracy fast gezwungen wird. Dabei wird deutlich, dass es immer wieder neue Unklarheiten gibt, Holacracy jedoch ein tolles System ist, diese schnell zu beseitigen und Klarheit zu schaffen.
Ängste – besonders zu Beginn
Zu sagen, dass mir von Anfang an klar war, dass es sich gut entwickeln wird, wäre gelogen. Ich hatte einige Ängste und Reste davon mögen auch heute immer noch da sein.
Die Umstellung bedeutete für mich erst einmal, mich selbst zu entmachten. Vieles was ich früher entschieden habe, entscheide ich nun nicht mehr und kann ich nicht mehr entschieden. Wenn mir eine Entscheidung eines Kollegen, die im Rahmen seiner Rolle getroffen wurde nicht passt, kann ich das Kund tun, verhindern kann ich es nicht. Gleich am aller ersten Tag unseres Einführungs-Kick-offs ist es dabei zu einem Konflikt mit einer Kollegin gekommen, als sie aufgrund anderer Werte eine Entscheidung getroffen hat, die ich damals anders getroffen hätte.
Das führt zur zweiten sehr realen Herausforderung mit Holacracy. Im Gegensatz zum klassisch-hierarischen System, kann ich mit Holacracy nicht in die Autorität anderer Rollen eingreifen aufgrund persönlicher Vorlieben oder Präferenzen. Wenn es keinen gewichtigen Grund aus einer meiner Rollen gibt, spielen meine persönlichen Präferenzen keine Rolle. Das heißt natürlich nicht, dass die Sache damit erledigt wäre. Dies kann zu Konflikten auf persönlicher Ebene führen. Mit diesen Konflikten, die sich außerhalb von Arbeitsinhalten und Organisationsstruktur befinden, kann Holacracy als System auch nicht umgehen beziehungsweise bietet keine Lösung dafür an. Als Unternehmen ist es daher ganz wichtig, sicherzustellen, dass diese zwischenmenschlichen Themen einen Raum haben und adressiert werden können.
Gleichzeitig war und ist es für mich ein großer Lernprozess, dass Reaktionen meiner Kollegin aus ihren Rollen kommen und nicht per se etwas mit meiner Person zu tun haben. Das ist die oft zitierte Trennung von „Role and Soul“ bei Holacracy.
Schließlich war und ist eine dritte Angst, die des Kontrollverlusts. Ich habe nun das Schicksal meines Babys nicht mehr alleine in der Hand und ich muss darauf vertrauen, dass es sich in eine Richtung entwickelt, die ich als richtig empfinde. Ich habe natürlich nach wie vor einen großen Einfluss darauf, wohin wir uns entwickeln, aber ich kontrolliere es nicht mehr. Damit muss ich auf persönlicher Ebene zurecht kommen.
Diese Art der Organisationsstruktur erlaubt es einem Unternehmen, deutlich schneller Entscheidungen zu treffen und seine Struktur der sich wandelnden Realität anzupassen.
Was bringt Holacracy?
Trotz der oben beschriebenen Hürden empfinde ich die Entwicklung der letzten Monate als sehr bereichernd.
Ganz konkret folgende Punkte:
- Holacracy arbeitet mit einem vorgegebenen Prozess und einer Vorgehen wie Meetings ablaufen und wie die Struktur der Organisation verändert wird. Diese sind am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig und jetzt einfach nur befreiend und meist auch beschleunigend. Bei Kunden im Rahmen von Innovationsworkshops haben wir als Facilitator den Prozess in der Hand und geben eine Struktur vor. Dieses Vorgehen ist es, das die Arbeit in diesen Workshops so effektiv macht, weil wir nicht immer wieder über das wie? diskutieren müssen. Ganz ähnlich ist es mit Holacracy.
- Holacracy verschriftlicht alle Inhalte. Holakratische Organisationen nutzen eine spezielle Software, um alle Inhalte abzubilden. Dieser Zwang die Dinge schriftlich festzuhalten, zwingt zu Klarheit und zwingt zu Entscheidungen. Danach kann auch keiner sagen, dass er / sie es nicht gewusst hat.
- Die Art wie die Organisation funktioniert, führt aus meiner Sicht auch zu besseren Ergebnissen, weil Menschen anhand ihrer Stärken in ihren Rollen Entscheidungen treffen und Input von allen Seiten der Organisation in die Organisation getragen werden kann.
- Für mich persönlich führt es zu einer Entlastung, weil bestimmte Rollen nun nicht mehr bei mir liegen und durch die klare Definition der Rollen, diese viel leichter an Kollegen abgegeben werden können.
Schließlich glaube ich, dass wir mit dieser Form der Organisation fit für die Zukunft sind, da wir schneller auf unser Umfeld reagieren und uns anpassen können.
Was braucht für Holacracy?
Klingt toll? Ist es auch. Gleichzeitig ist es für uns als kleines Unternehmen mit 6 Mitarbeitern im Kernteam und 3 Freelancern natürlich deutlich leichter, diesen Wandel zu vollziehen. Bei uns wollten alle und wir haben natürlich eine deutliche geringere Organisationskomplexität als große Unternehmen.
Ein paar Dinge braucht es aus meiner Sicht jedoch zwingend, damit es gut funktionieren kann:
- Der Chef muss loslassen können! Ob mir das gelungen ist, können meine Kollegen besser beurteilen.
- Transparenz: Menschen können nur eigenverantwortlich gute Entscheidungen treffen, wenn sie Zugang zu allen relevanten Informationen haben. Das heißt alle Geschäftszahlen, Kennzahlen und Kundendaten sind für alle zugänglich. Wissen ist nicht Macht und Wissen sollte nicht gehortet werden. Wenn sich eine Organisation einmal daran gewöhnt hat, dann ist es völlig natürlich, dass alle auch Zugang zu den Gehaltsdaten der anderen haben.
- Den Wunsch eigenverantwortlich zu arbeiten. Nicht jeder möchte eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und dann die Verantwortung dafür übernehmen. Es gibt Menschen, die gesagt bekommen möchten, was sie tun sollen und dann genau das tun, was man ihnen sagt. Ich glaube, solche Menschen gibt es weit weniger als wir glauben. Die meisten von denen wir es glauben, wollen eigentlich, dürfen jedoch nicht. Aber, es gibt sie und in einer Organisation, die auf Selbstorganisation setzt, werden sie es schwer haben.
- Fertigkeiten sich organisieren zu können. Systeme der Personal-Workflow-Organisation wie zum Beispiel Getting Things Done (GTD), sind ein zentraler Grundbaustein für das Gelingen von Selbstorganisation in Unternehmen. Leute brauchen die Fertigkeiten „Dinge“ selbstständig zu organisieren, zu priorisieren und sie wieder zu finden. Ohne dieses funktionierende System bricht schnell Chaos aus. Das Gute ist, man kann das lernen, es erfordert jedoch einiges an Disziplin für Menschen, die bisher eher wurschtelten in der täglichen Arbeit. Brian Robertson, einer der Gründer von HolacracyOne hat in einem Video einmal schön gesagt, dass eine hierarchische Organisation in der alle nach GTD arbeiten, besser ist als ein holakratische in der jeder wenig organisiert vor sich hinarbeitet.
- Die Bereitschaft persönliche Befindlichkeiten und Verhaltensweisen, die einen an anderen irritieren anzusprechen. Ansonsten kann es sehr schnell ungemütlich werden und zu Konflikten kommen. Unser Coach Joan sprach in diesem Kontext von einem „Cold out“ der sich einstellt, bei dem jemand dann einfach mechanisch sich den Prozessen hingibt, ohne seine Rollen mit Leben zu füllen.
Noch haben wir lediglich die ersten Schritte gemacht, es werden uns bestimmt noch einige Hürden auf dem Weg begegnen. Der bisherige Weg stimmt mich jedoch sehr positiv für die Zukunft.