Häufig hört man in der Unternehmenswelt den Ruf nach mehr Kreativität und Innovation. Vor allem die Mitarbeiter sollen möglichst kreativ sein, um neue Produkte zu entwerfen, innovative Dienstleistungen anzubieten und interne Prozesse zu optimieren. Die Frage, die sich die meisten Menschen stellen, wenn sie auf Kreativität angesprochen werden, ist sehr viel grundlegender: Bin ich kreativ? Kann ich kreativ sein?

Genie und Intelligenz

Das Thema Kreativität zeigt bei vielen Menschen tief sitzende Selbstzweifel. Kreativität ist etwas, das häufig „Anderen“ zugeschrieben wird. Man verweist auf berühmte Musiker, Maler, Bildhauer, Erfinder und Ingenieure, deren Errungenschaften von der Nachwelt verehrt werden. Häufig fällt in diesem Zusammenhang der Begriff „Genie“. In den Augen vieler gibt es einzelne, gesegnete Individuen, die dank ihrer Genialität zu kreativen Höchstleistungen imstande sind. Was genau diese Genialität ausmacht, wie man sie definiert, misst, bewertet oder gar vervielfältigt, ist schwer auf den Punkt zu bringen.

Der Begriff Genie selbst ist dabei sehr interessant. Ursprünglich bezeichnete der lateinische Begriff „genius“ eine Art Schutzgottheit einer Person oder eines Ortes. Aus der Gottheit wurde später ein Prinzip, das die Einzigartigkeit der Person oder des Ortes veranschaulichte. So konnte man mit der Zeit die einzigartigen Fähigkeiten einer Person als genial bezeichnen, weil sich die Person damit hervortat. Das konnte im Bereich der Musik sein, in der Kunst, der Literatur, oder auch in der Wissenschaft. In der Moderne wandelte sich der Begriff erneut. Vor allem von Psychologen wurde das Konzept eines messbaren, vergleichbaren Wertes der geistigen Fähigkeiten eines Menschen vorangetrieben, der Intelligenz. Der Begriff Genie wurde verknüpft und beschrieb eine Person mit außerordentlichen intellektuellen Ressourcen.

Bemerkenswert ist, dass das Element der einzigartigen Schöpfungskraft in den Hintergrund rückte. Da Intelligenz gemessen werden kann, es also einen Schwellenwert für Genialität gibt, kann man ein Genie schon erkennen, bevor es überhaupt zu wirken beginnt. Abgesehen von der Problematik eines einheitlichen Intelligenzwertes – es ist doch sehr fragwürdig, die geistigen Fähigkeiten eines Menschen anhand eines einzelnen Wertes auf einer einheitlichen Skala messen zu wollen – funktioniert die Übertragung des Intelligenzkonzepts auf die Kreativität nicht sonderlich gut.

Um beim Begriff Genie zu bleiben: Frühere, „geniale“ Menschen wurden nicht anhand von Tests und Werten gerühmt, sondern wegen der Errungenschaften, die sie in die Gesellschaft einbrachten. Es gibt also ein starkes Element der Akzeptanz durch die Gesellschaft, sowohl im Hier und Jetzt als auch in der Zukunft. Gerade bei Musikern und Malern hat häufig erst die Nachwelt das „Genie“ der jeweiligen Person wirklich gewürdigt. Der IQ kann über verschiedene Methoden gemessen werden – der potentielle, zukünftige Beitrag einer Person zur Gesellschaft hingegen nicht. Tatsächlich garantiert ein hoher IQ nicht zwangsläufig kreative Schöpfungskraft, genauso wie viele berühmte Musiker, Künstler, zum Teil sogar Erfinder keinen außergewöhnlich hohen IQ aufweisen können. In seinem Buch Origins of Genius erwähnt Dean Keith Simonton unter anderem William Shockley, Nobelpreisträger und Miterfinder des Transistors, sowie niemand geringeren als Charles Darwin, den Vater der modernen Evolutionslehre. Darwin soll, basierend auf einer Rekonstruktion anhand der überlieferten Dokumente von und über ihn, zwar überdurchschnittlich intelligent, aber keineswegs einzigartig begabt gewesen sein.

Intelligenz und Kreativität

Gewisse Fähigkeiten, wie sie bei modernen Intelligenztests gemessen werden, sind sicher auch für kreatives Arbeiten vonnöten, während andere Fähigkeiten die kreative Produktivität enorm erhöhen. Die Quelle der Kreativität liegt aber woanders. Der amerikanische Psychologe Sarnoff Mednick stellte 1962 die Assoziationstheorie des kreativen Prozesses auf. Demnach ist ein Mensch dann besonders kreativ, wenn er über eine flache Hierarchie von Assoziationen und Ideen verfügt. Damit ist gemeint, dass ein Mensch zu einem beliebigen Konzept eine große Anzahl möglicher Verknüpfungen abrufen kann bzw. diese auch weiterverfolgt, anstatt sich nur in einem engen Kreis um das ursprüngliche Thema zu drehen. Diese Fähigkeit, in Alternativen zu denken, Bestehendes zu verknüpfen und sich bei Bedarf schnell und schmerzlos von Altem zu lösen treibt den kreativen Prozess voran. Gerade letzteres, die Trennung von Bestehendem, fällt eher in den emotionalen Bereich, der nicht von Intelligenztests erfasst wird. Viele dieser Fähigkeiten können aber gelernt, trainiert und optimiert werden. Das liegt auch daran, dass jeder Mensch über kreatives Potential verfügt.

Das ist nicht lediglich eine Formulierung politischer Korrektheit. Studien mit Tieren haben ergeben, dass auch viele Säugetiere über gewisse Fähigkeiten der kreativen Problemlösung verfügen. Tauben sind beispielsweise in der Lage, bereits gelernte Verhaltensmuster zu neuen zusammenzusetzen, um ein bisher nicht bekanntes Problem zu lösen. Höher entwickelte Säugetiere wie Schimpansen und Delphine sind zu noch mehr kreativer Leistung in der Lage. Dabei sind tierische Fähigkeiten aber begrenzt, denn wie im Fall der Tauben können Tiere nur Bestehendes kombinieren. Menschen jedoch sind in der Lage, dieselben Denkprozesse auf abstrakter Ebene durchzuführen. Nur der Mensch kann eine Situation analysieren, in der er sich noch nie befand, und bereits bei den ersten Lösungsversuchen eines Problems durch Abstraktion potentiell sinnvolle Ansätze erproben. Dem Tier bleibt häufig nur blindes „Trial & Error“.

Was die meisten Menschen davon abhält, diese Fähigkeiten zu nutzen, sind meist angelernte Verhaltens- und Denkmuster. Diese sind sozialer Natur und verschütten häufig die natürlich angeborenen Fähigkeiten sowie auch die persönlichen Stärken eines Menschen. Deswegen noch einmal die gute Nachricht: Durch das Erlernen bestimmter Methoden und die Reflektion eigener Verhaltensmuster kann man sich Kreativität (wieder) aneignen. Und wie bei den meisten Dingen gilt: Es ist Übungssache. Je früher man also damit anfängt, desto größer der Erfolg!