Selbstvergewisserung oder Übergriffigkeit? Was Purpose in Organisationen leisten kann (und was nicht)
Wenn im Organisationskontext englische Begriffe übernommen werden, deutet das meist auf eines von zwei Dingen hin: Entweder fehlt im Deutschen ein treffendes Wort, oder es herrscht Unklarheit darüber, was überhaupt gemeint ist.
Das in vielen Unternehmen verwendete Wort „ownership“ ist so ein Beispiel. Bei allen Kunden-Unternehmen in denen ich bisher als Organisationsberater am Wort „Ownership“ vorbei gekommen bin, zeigte sich schnell, dass es deutlich unterschiedliche Vorstellungen der Beteiligten gab, was Ownership nun eigentlich bedeutet und impliziert.
Seit Frederic Laloux’ Buch „Reinventing Organizations“ (2014) wird in Managementkreisen diskutiert, ob Organisationen einen Purpose brauchen.
Der Hype ist zwar gerade wieder am abflauen, dennoch ist der Begriff nach wie vor aktuell. Ist Purpose also nur die nächste Management-Sau, die durchs Dorf getrieben wurde?
In diesem Artikel möchte ich in meiner Rolle als Organisationsberater mit einem systemtheoretischen Blickwinkel mit dem Konzept Purpose auseinander setzen und die Frage klären, ob es „sinnvoll“ ist für Organisationen einen Purpose zu definieren und zu kommunizieren. Ich schicke vorweg, dass ich vor 12 Jahren ein großer Laloux Fanboy war und nun durch meine Tätigkeit als Organisationsberater meine Sichtweise deutlich geändert habe.
Inhaltsverzeichnis
Was bedeutet Purpose?
Die meisten Erklärungen des Begriffs Purpose im Organisationskontext sagen, dass dieser die Antwort auf die Frage des „wofür?“ ist. Also:
- Wofür gibt es uns?
- Was sollen wir in die Welt bringen?
Laloux schreibt: „Something is notably absent in these books: the purpose organizations serve. What makes ‚winning‘ worthwhile? Why do organizations exist in the first place, and why do they deserve our energy, talents, and creativity?“
In diesem Sinne kann man den englischen Begriff mit Zweck oder Sinn übersetzen: Was ist unser Zweck? Was ist der Sinn unserer Unternehmung?
Laloux spricht auch von einem evolutionary purpose. In dieser Logik ist das schnöde Überleben der Organisation keinesfalls ausreichend bzw. ein Anzeichen dafür, dass die Menschen und die Führung der Organisation in ihrer Entwicklung noch auf den unteren (evolutionären) Stufen feststecken: „So if the collective purpose isn’t what drives decision-making, what does? It is the self-preservation of the organization.“
Menschen in Unternehmen, die zeigen möchten, dass sie schon auf den höheren Entwicklungsstufen angekommen sind (in der Farblogik von Spiral Dynamics spricht man von Teal-Organizations), setzen sich also dafür ein, dass die Organisation einen Purpose ableitet:
„With the transition to Evolutionary-Teal, people learn to tame the fears of their egos. This process makes room for exploring deeper questions of meaning and purpose, both individually and collectively: What is my calling? What is truly worth achieving? Survival is no longer a fixation for Teal Organizations. Instead, the founding purpose truly matters.“
Wer beim Lesen eine normative Schlagseite spürt, liegt richtig.
Also Organisationsberater weiß ich, dass ein normatives Herangehen an Organisationen meist ungünstig ist. Ein wertender Fokus schränkt die Möglichkeiten stark ein, Probleme der Organisation funktional zu bearbeiten.
Sollten sich Organisationen nun einen Purpose geben?
Das kommt nun darauf an, wie man das Wort definiert.
Wenn Purpose als Sinn verstanden wird, hieße das: Die Organisation definiert Sinn und gibt ihn ihren Mitgliedern vor.
Das wäre zum einen nicht nur unmöglich und zum anderen absolut übergriffig von der Organisation.
Dazu muss ich etwas ausholen:
Hier spiegelt sich mein Verständnis von Organisation (siehe Glossareintrag Organisation) wider. In einer systemtheoretischen Sichtweise auf Organisationen geht es für Organisationen in der Tat darum, zu überleben und das Fortbestehen zu sichern. In dieser Sichtweise ist es zu erwarten, dass eine Organisation fortbestehen möchte und sich immer so an die Umwelt anpasst, dass das Fortbestehen wahrscheinlicher wird.
Wenn der einmal gegebene Purpose (im Laloux-Sinne) nicht mehr sinnvoll oder obsolet ist, dann würde die Organisation trotzdem versuchen zu überleben und sich ganz flexibel einen anderen Purpose geben. An Organisationen wie Nokia, Matsushita (Panasonic) oder der NATO kann man dies empirisch gut beobachten.
Nokia hat einmal angefangen als Hersteller von Gummi und Kabelprodukten. Später wurde das Unternehmen zum größten Mobiltelefonhersteller der Welt und ist nun ein in der Netzwerkinfrastruktur tätig. Matsushita hat begonnen als Hersteller von Fahrradlampen und ist nun ein in vielen sehr unterschiedlichen Geschäftsfeldern tätiger Elektornikkonzern, hierzulande bekannt mit dem Marken Panasonic und Technics.
Die NATO hätte sich eigentlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auflösen müssen, da der Zweck obsolet geworden war. Die Organisation war jedoch sehr schnell mit einem neuen „Wofür?“ zur Stelle und damit einem Grund weiter bestehen zu müssen.
Sinn ist individuell konstruiert
Sinn und was Menschen als sinnvoll erleben, ist individuell konstruiert (wie in Viktor Frankls Buch: Man’s Search for Meaning schön beschrieben). Was für die eine sinnvoll ist, mag für den anderen sinnlos erscheinen.
Ich habe mich kürzlich mit einem Vegetarier unterhalten, der bei einem Kunden arbeitet, der Maschinen für die fleischverarbeitende Industrie herstellt. Mein Ansprechpartner empfindet seine Tätigkeit (in der Administration) als äußerst sinnvoll, obwohl er als Vegetarier in einem Unternehmen arbeitet, das Fleischportionierungsmaschinen verkauft. Manch Außenstehender mag dies für total sinnlos erachten.
Menschen brauchen immer Sinn! Es obliegt den Menschen, einen Sinn zu konstruieren. Dieser ist dabei immer subjektiv. Für unterschiedliche Menschen kann die Tätigkeit in der Organisation einen unterschiedlichen Sinn haben.
Fritz B. Simon schreibt in seinem Buch „Einführung in die systemische Organisationstheorie“ dazu:
„Der Sinn des Lebens ist das Leben – das gilt auch für Organisationen. Das schließt natürlich nicht aus, dass sie sich Ziele suchen und z. B. Probleme lösen. Aber das ist dann Mittel zum Zweck des Überlebens. Wenn man Organisationen als Problemlösemittel betrachtet, so sind es vagabundierende Lösungen, auf der Suche nach passenden Problemen …“
und weiter
„Dass Organisationen oft zum Erreichen konkreter Ziele ins Leben gerufen werden, ändert nichts an ihrer davon unabhängigen Eigenlogik, d. h. der Autonomie autopoietischer Systeme: Man kann schließlich auch ein Kind aus zweckrationalen Gründen zeugen (um jemanden zu haben, der den Rasen mäht etc.), aber sobald solch ein Wesen seine autopoietischen Prozesse der Selbstkreation und des Selbsterhalts begonnen hat, d. h. noch im Mutterleib, entwickelt es sich seiner eigenen internen Strukturen entsprechend. Es kommt dann früher oder später fast zwangsläufig zu Konflikten zwischen ihm und seinen „Erzeugern“ („Gründern“, „Besitzern“), wenn es sich z. B. weigert, den Rasen zu mähen.“
Sinn vorgeben wird zu Enttäuschung führen
Wenn nun eine Organisation für Menschen definieren möchte, was sinnvoll ist, wird dies vermutlich bald zu Enttäuschungen führen. Sowohl bei den Menschen in der Organisation als auch bei möglichen Bewerbern.
Simon schreibt: „Hinzu kommt, dass an ihrem Zustandekommen [der Organisation] und Erhalt eine größere Zahl von Akteuren beteiligt ist, die dies aufgrund ihrer eigenen, spezifischen Zwecke tun. Daher ist die Idee eines gemeinsamen, alle Beteiligten vereinenden Ziels illusorisch. Organisationen können zwar als Mittel zum Zweck verstanden werden, aber dann sind sie Mittel zu unterschiedlichen, oft konkurrierenden und manchmal sich sogar gegenseitig ausschließenden Zwecken.
Nehmen wir das Unternehmen als Beispiel. Es dient den Mitarbeitern als Mittel, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, vielleicht auch noch berufliche Befriedigung zu finden, „Spaß“ bei der Arbeit zu haben etc. (= „Motivation“). Den Eigentümern, sei es nun eine Einzelperson, eine Familie oder eine Gruppe von Aktionären, ist es Mittel zum Erzielen einer Rendite, aber auch hier kann seine Bedeutung weiter reichen, es kann z. B. (vor allem bei Gründern und deren Familien) zur persönlichen Identitätsbildung beitragen usw. Den Kunden ist es als Produzent von Waren und Dienstleistungen Mittel zur Entwicklung von Konsumfantasien und -bedürfnissen sowie ihrer eventuellen Befriedigung, dem Staat ein Mittel Steuern einzunehmen usw. Die Liste ließe sich noch verlängern. Es geht also um sehr verschiedene Zweckrationalitäten oder, wenn von einzelnen Akteuren und ihren Entscheidungen die Rede ist: um sehr verschiedene Motivationen individuellen Handelns.“
Wenn man Purpose dagegen weniger metaphysisch, sondern funktional versteht, bekommt das Konzept eine andere Bedeutung.
Purpose als Orientierung
Man kann den Begriff Purpose im Sinne einer Mission verstehen. Die Mission meines Kunden DKMS lautet: „Wir besiegen Blutkrebs“.
Die aktuelle Mission der Firma Bayer (ja, die die Monsanto gekauft haben und roundup nach wie vor vertreiben) lautet „Health for all, Hunger for none“.
Eine Mission kann als Orientierung dienen. Meist ist die Mission jedoch zu abstrakt um in der konkreten Situation handlungsleitend zu sein. Deshalb entwickeln Organisationen Strategien. Diese bieten schon konkreter einen Rahmen, wie in einer ungewissen Zukunft Entscheidungen getroffen werden sollen. Aufbauend auf dieser Strategie können dann in der Organisation konkrete Ziele definiert werden. Beides dient dazu, das Handeln zu steuern und zu koordinieren.
Ob jemand die eine oder andere Orientierung bietende Mission als sinnvoll betrachtet, ist trotzdem individuell.
Ein weiteres Beispiel für eine Mission: „Mit unseren Technologien, unseren Produkten und Systemen schaffen wir die unverzichtbare Grundlage für Frieden, Freiheit und für nachhaltige Entwicklung: Sicherheit.“ Die Mission der Firma Rheinmetall. Auch hier ist meine Vermutung, dass einige Menschen in den letzten Jahren einen Sinnes-Wandel erfahren haben und nun anders auf die Sinnhaftigkeit dieser Mission blicken als noch vor 5 Jahren.
In diesem Sinne sind sowohl Mission als auch Strategie eine Sonderform der Führung. Sie bieten Orientierung, um besser Entscheidungen zu treffen. Diese Orientierung ist absolut sinnvoll, denn sie erhöht die Wahrscheinlichkeit des Überlebens der Organisation.
Und: Sollte es einer Organisation tatsächlich einmal gelingen ihre Mission zu erfüllen (Mission accomplished), dann würde das System trotzdem versuchen das Überleben zu sichern und sich schnell eine neue Mission geben. Wie bei der NATO.
Vielleicht ist es um Purpose auch deshalb so still geworden: Der Arbeitsmarkt hat sich gedreht. Purpose war vor allem ein Signal nach außen, ein Recruiting-Instrument. Wenn Bewerber wieder Schlange stehen, verliert Purpose an Bedeutung für diesen Recruiting-Zweck.
In diesem Sinne ist das eigentliche „Wofür?“ von Organisationen am Ende doch ganz banal: zu überleben.
Foto von Austin Chan auf Unsplash
