In der Innovations- und Kreativitätsforschung gibt es den schönen Begriff „Paradox der Expertise“. Dieses Paradox besagt, dass wir, um zu Innovation zu gelangen auf der einen Seite Experten benötigen und, dass auf der anderen Seite die Experten der Grund sind, warum wir nicht zu Innovation gelangen.
Wann ist jemand ein Experte? Einmal, wenn er von anderen als solcher bezeichnet wird. Dies wird er vor allem dann, wenn er / sie sich ausführlich und über längere Zeit mit einem Thema beschäftigt hat und dort Fertigkeiten und Erfahrungen erwerben konnte.

Der Grund warum Experten einen Innovationsblocker darstellen können, liegt darin dass es oft die Experten sind, die basierend auf Ihrer Erfahrung Neues zu schnell verwerfen oder sich zu stark darauf konzentrieren, warum das Neue nicht funktionieren kann, wo das Problem liegt. Diese Erfahrung haben wahrscheinlich alle Leser dieses Blogs in Besprechungen bereits gemacht.

Cynthia Barton Rabe beschreibt in ihrem Buch „Innovation Killer“ den Begriff des Expertthink als eine üble Steigerung des Groupthink: „ExpertThink is the tendency of people in the same organizations, professions, or industries to start making decisions, analyzing situations, and evaluating ideas as if they all have the same mental mindset.“ Das ist die negative Seite des Paradox.

Die positive Seite des Paradox ist, dass Experten notwendig sind für Innovation, sowohl für die Ideenentwicklung als vor allem auch für die Ideenbewertung. Für die Ideenentwicklung brauchen wir Experten aufgrund ihres Wissensschatzes und der Möglichkeit darauf aufbauend neue Kombinationen zu erschaffen. In der Ideenbewertung sind die Experten ebenfalls wichtig, weil sie Fachwissen und Erfahrung mitbringen, die einer Gruppe hilft, die Qualität von Ideen angemessen zu beurteilen. Das ist auch der Grund, warum wir in unseren Innovationsworkshops immer ausgewiesene Experten mit im Raum haben.

Aber – jetzt kommt es – gerade in der Ideenbewertung, wo ja zentrale Richtungsentscheidungen getroffen werden, welche Ideen weiter verfolgt werden und welche nicht, können die Experten auch großen Schaden anrichten, weil sie Ideen zu schnell und möglicherweise ungerechtfertigt verwerfen. Unberechtigterweise kann in diesem Fall heißen, weil sie zu schnell ihrer professionellen Intuition vertrauen.
Oft ließt man ja, dass diese professionelle Intuition und die damit verbundene Möglichkeit schnell „die richtigen“ Entscheidungen treffen zu können, eine große Stärke der Experten sei. Es kommt darauf an, wann Experten ihrer Intuition vertrauen und wann nicht. Wichtig ist, dass Experten ihrer Intuition keinesfalls immer vertrauen können. Ich werde in diesem Artikel argumentieren, dass sie das im Kontext von Innovation in bestimmten Fällen nicht dürfen!

Intuition = gedächtnisbasierte Mustererkennung

Regelmäßige Leser dieses Blogs erinnern sich an einige Artikel, in welchen ich mich mit diesem Thema bereits beschäftigt habe. In den letzten Wochen habe ich jedoch einige spannende Bücher und Artikel gelesen, die für mich weitere explizite Erklärungen und Erkenntnisse gebracht haben.
Zu diesen Büchern gehört unter anderem „Thinking, fast and slow“ des Nobelpreisträgers Daniel Kahnemann, der für seine Forschungen zu Entscheidungsfindung und Intuition ausgezeichnet wurde. Dieser hat etwas in der Forschung nicht sehr häufig vorkommendes gemacht, er hat sich mit einem seiner schärfsten Kritiker (Gary Klein) für ein gemeinsames Forschungsprojekt zusammengetan, in dem sie versucht haben, aus ihren unterschiedlichen Forschungstraditionen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Ergebnisse lassen sich in Kurzfrom in dem Artikel „Conditions for Intuitive Expertise“ (American Psychologist, September 2009) nachlesen.

Kahnemann und Klein übernehmen für ihre Definition von Intuition die von Simon: „Simon defined intuition as the recognition of patterns stored in memory.“ Diese Definition entmystifiziert die Intuition, da es sich dabei „lediglich“ um ein Wiedererkennen früher erlebter und im Gedächtnis gespeicherter Muster handelt. Intuition schlägt also aus, wenn wir etwas Bekanntes erneut sehen. Dieses Prinzip machen sich auch clevere Innovatoren zu nutze, um die Akzeptanz für zukünftige Angebote zu erhöhen bzw. Abwehrreaktionen zu minimieren, in dem sie ein Zukunftsgedächtnis schaffen.

Zwei Bedingungen für Vertrauen in die Intuition

Nach Kahnemann und Klein gibt es zwei Bedingungen unter welchen ein Experte bei der Entscheidungsfindung seiner Intuition vertrauen kann:

  1. Wenn die Umwelt, die bewertet wird, vorhersagbar ist.
  2. Wenn ein Mensch ausreichend Zeit und Möglichkeiten hatte, Regelmäßigkeiten einer vorhersagbaren Umwelt zu erlernen.

Ausreichend vorhersagbar ist eine Situation dann, wenn es ausreichend Regelmäßigkeiten in dieser Umwelt gibt. Dann können Anhaltspunkte verlässliche Aussagen über die weitere Entwicklung liefern. Solche Situation bezeichnen Kahnemann und Klein als „high-validity environment“. Beispiele dafür sind die Arbeit von Feuerwehrmännern oder Krankenschwestern. Da Feuer sich meist ähnlich verhalten, kann man davon ausgehen, dass ein Feuerwehrmann mit vielen Jahren Berufserfahrung beim ersten Anblick eines Feuers intuitiv verlässliche Aussagen zum weiteren Vorgehen machen kann.

Umwelten mit sehr geringen oder gar keinen kausalen Regelmäßigkeiten bezeichnen die beiden als „low-validity environment“. Beispiele hierfür sind längerfristige (über ein Jahr hinausgehend) Vorhersagen über Aktien oder politische Entwicklungen. Die Trefferquoten von Experten in diesen beiden Bereichen gehen gegen Null und wenn es Treffer gibt, dass sind diese mit dem Zufall zu erklären: „The depressing consistency of the experts‘ failure to outdo the novices in this task suggests that the problem is in the environment: Long-term forecasting must fail because large-scale historical developments are too complex to be forecast. The task is simply impossible. A thought experiment can help. Consider what the history of the 20th century might have been if the three fertilized eggs that became Hitler, Stalin, and Mao had been female. The century would surely have been very different, but can one know how?

Das zweite Kriterium bezieht sich auf ausreichend Zeit und Möglichkeiten. Möglichkeiten bedeutet hier, dass eine Person eine zeitnahe Rückmeldung zu seinen Hypothesen und Annahmen bekommen konnte. Wenn zwischen einer Hypothese und dem Test dieser Hypothese mehrere Jahre liegen (wie z.B. bei bestimmten Vorhersagen zu Krebserkrankungen) kann man nicht von einer ausreichenden Lernmöglichkeit sprechen.

Wann Experten ihrer Intuition vertrauen dürfen

Nun ist die Frage, wann Experten Ihrer Intuition bei Innovation vertrauen dürfen? Warum nur Experten? Weil nur Experten, wie oben definiert, eine ausreichende intuitive Datenbasis haben, um brauchbare intuitive Urteile fällen zu können.

Die Antwort hängt meiner Meinung ab, von der Art des Innovationsvorhabens / der Art des Themas. Innovation beinhaltet die Schaffung von etwas Neuem. Dabei gibt es die Unterscheidung hinsichtlich dem Grad der Neuheit. Bei eher geringfügigen Veränderungen spricht man von inkrementeller Innovation, die noch Nahe am bereits bestehenden ist. Wenn das Neue sehr weit weg vom Bestehenden ist, spricht man etwas vereinfacht ausgedrückt, von radikaler Innovation.
Besonders in der Bewertung von radikaler Innovation müssen Experten vorsichtig sein, ihrem Bauchgefühl zu folgen, weil hier entweder keine ausreichenden Muster vorhanden sind, oder die wie in einem Umfeld von geringer Validität die falschen Muster aktiviert werden.
Eher vertrauen können Experten Ihrer Intuition, wenn es um eher kleine Veränderungen geht, die Nahe am Bestehenden sind.

Wenn wir dem Bauchgefühl nicht vertrauen dürfen, was sollen wir den sonst machen?

Eine Möglichkeit ist es, Ideen expliziter und bewusster (und damit wesentlich langsamer) zu bewerten anhand weiterer Kriterien und zum Beispiel mit Hilfe konkreter Vorgehensweisen oder Kreativitätstechniken. Am besten findet diese Bewertung mit einer diversen Gruppe bestehend aus Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Expertisen statt, um Groupthink und Expertthink zu vermeiden, bzw. zu vermeiden, dass eine Person nur eine beschränkte Wahrnehmung der Situation hat.

Eine weitere Möglichkeit ist es, Ideen erst weiter auszuarbeiten und simple Prototypen zu erstellen. Dadurch entsteht ein tieferes Verständnis und eine bessere Beurteilungsgrundlage. Außerdem besteht die Möglichkeit, Ideen weiter zu verbessern, bevor diese abschließend bewertet werden.

In unseren Innovationsworkshops oder Kreativitätstrainings wird regelmäßig die Frage gestellt, ob es eine Methode gibt, um objektiv die besten Ideen zu finden. Meines Wissens nach gibt es nicht die Methode, um sicherzustellen, dass wir keine guten Ideen übersehen und die „besten“ Ideen auswählen. Was es aber gibt ein achtsames vorgehen im Umgang mit Ideen und den ersten intuitiven Reaktionen auf Ideen und Strategie, diese Reaktionen zu hinterfragen.