Im zweiten Jahr in Folge hatte ich die Gelegenheit für creaffective nach Indien zu reisen. Dort habe ich wieder einige Vorträge zum Thema Innovation, sowie drei Kreativitätstrainings abhalten dürfen.

Auch dieses Mal wurde ich wieder von einer lokalen Person begleitet, die mich bei organisatorischen Dingen sehr unterstützt hat und mir zudem einen tiefen Einblick in die Indische Kultur ermöglicht hat. Ihr Name ist Archana, wir haben uns von Anfang an sehr gut verstanden und sind im Laufe der 10 Tage gute Freundinnen geworden.

Eines Abends, nach einem der zweitägigen Trainings in der tamilischen Stadt Madurai, waren wir im dichten indischen Verkehr auf dem Weg zum Bahnhof. Plötzlich sah ich vor uns den wahrscheinlich kleinsten Krankenwagen der Welt.

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Die wahrscheinlich kleinste Ambulanz der Welt.
 

Ich sprach Archana darauf an, so nach dem Motto: „Das ist doch nicht euer Ernst, dass so etwas ein Krankenwagen sein soll!“, aus meiner vielleicht verwöhnten europäischen Perspektive. Sie muss meinen Sarkasmus wohl missverstanden haben, denn sie antwortete mir voller Stolz, wie gut es sei, diese kleinen Ambulanzen zu haben, da man auf diese Weise viele davon haben könne, und sie schneller durch den Verkehr kommen. Danach erzählte sie mir voller Stolz, das es seit einigen Jahren in ihrer Heimatstadt Bangalore sogar eine Telefonzentrale gäbe, bei welcher man anrufen kann, wenn es einen Notfall gibt, die dann zentral steuert wo welche Ambulanz als nächstes hinfahren soll.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, welche riesige Innovation die Einführung einer Notrufnummer für eine Gesellschaft darstellt. Es handelt sich hierbei nicht um eine schicke und großartig vermarktbare Produktinnovation, wie vielleicht das letzte Smartphone oder das neueste Elektroauto. Es handelt sich hierbei um eine Innovation auf der Prozessebene, die große Auswirkungen für die Gesundheitsindustrie und das Leben der Bewohner einer Stadt hat.

Die Geschichte der Notrufnummern

Der Ursprung der Notfallnummern liegt in der Evolution der Telefonapparate vom Fernsprecher zum Selbstwähltelefon. Anfangs, als man sich vom „Fräulein vom Amt“ mit der gewünschten Person verbinden lassen musste, konnte man ihr, im Falle eines Notfalls sagen, dass man mit der Polizei, der Feuerwehr oder einem Arzt verbunden werden wollte. Als dann die ersten Selbstwähltelefone eingeführt wurden, musste man entweder die Nummer vom nächsten Arzt kennen, sie im Telefonbuch suchen, oder doch wieder bei der Vermittlung anrufen. Die erste Notfallnummer weltweit war die 999 in London im Jahre 1937, doch etabliert haben sich die Notfallnummern nicht bis in die 70er Jahre.

1972 empfahl die Europäische Konferenz der Verwaltungen für Post und Telekommunikation die Nummer 112 als ideale Notfallnummer, denn es waren die Ziffern die auf einem Wahlrad-Telefon am schnellsten zu wählen waren und nicht aus einer Reihe mit drei gleichen Ziffern bestanden, wie z.B. die 111, die oft aus Versehen gewählt wurden. Bis zur europaweiten Standardisierung dauerte es aber noch einige Jahre.

In Deutschland wurden 1973 die Nummern 110 und 112 als Notrufnummern bundesweit eingesetzt, nachdem die Familie Steiger sich stark dafür eingesetzt hatte. Einige Jahre zuvor war ihr Sohn Björn ums Leben gekommen, da die Notfallhilfe zu spät kam. Seine Eltern wollten vermeiden, dass es anderen ähnlich erginge und revidierten das Argument der lokalen Regierung, eine solche Nummer sei nicht finanzierbar, indem sie das notwendige Geld für die Umsetzung in allen Landkreisen Nordwürttembergs dank harter Überzeugungsarbeit auftrieben. Sie kämpften weiter, für eine bundesweite Nummer und verklagten das Land in einem Verfahren, das sie zwar verloren, das ihnen aber eine große Aufmerksamkeit in den Medien verschaffte, was am 20. September 1973 dazu führte dass die 110 und die 112 bundesweit eingesetzt wurden.

Erst 1991 wurde die 112 als allgemeine Notfallnummer (für Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst) EU-weit eingesetzt, doch bis 2008 war es selbst in einigen EU-Ländern wie Polen, Bulgarien oder Italien nicht garantiert dass sie auch wirklich funktionierten. Auch in Bangalore, Indien, wurde die Nummer 108 im Jahre 2008 eingeführt.

Prozess- statt Produktinnovation

Es war also nur eine Frage der Prozessoptimierung, eine solche Nummer der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, denn Telefone gab es schon und Kranken-, Polizei- und Feuerwehrwagen gab es auch schon, es musste nur alles auf effiziente und zentralisierte Weise verbunden werden.

Oft übersehen wir die kleinen, unscheinbaren Innovationen, die aber definitiv unser Leben beeinflussen und verbessern.  Ich werde ab jetzt versuchen ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Und was ist mit Ihnen?