Für viele Menschen sind Innovation und Fortschritt synonym zu gebrauchen. Wir definieren Innovation als „die Einführung von etwas Neuem, das Nutzen bringt in einen größeren Kontext.“ Auch mit dieser Definition könnte man sagen, dass Innovation und Fortschritt Hand in Hand gehen und gleichbedeutend sind.
Marcel Hänggi, Autor des Buches „Fortschrittsgeschichten: Für einen guten Umgang mit Technik“ definiert Innovation als technische Neuerung, also deutlich enger als wir von creaffective. Er hat darüberhinaus auch eine Vorstellung was Fortschritt bedeutet und erläutert in seinem Buch, dass Innovation, so wie diese momentan betrieben wird, Fortschritt sogar behindert.

Das gute Leben

Für Hänggi ist Fortschritt mit dem Begriff des „guten Lebens“ verknüpft und in erster Linie kulturell zu sehen: „Der Begriff des Fortschritts ist eigentlich nur zu gebrauchen, wenn er sich auf einen gesellschaftlichen Wert bezieht – also etwa die Einführung erneuerbarer Energieträger nicht mit »höherer Effizienz« oder »geringeren Emissionen« begründet, sondern damit, dass man in einer Gesellschaft leben möchte, die in ihre Vorstellung vom guten Leben einschließt, dass es nicht auf Kosten von anderen geführt wird. Ein solcher Fortschrittsbegriff hängt also an einer ganz und gar untechnischen Kategorie: nämlich am »guten Leben«, was den demokratischen Streit darüber, was das sein kann, natürlich nicht ausschließt. Er hängt aber eben nicht an der Technik selbst, die ist bloß ein Mittel und niemals Zweck.“

Neue technische Entwicklungen (nach Hänggi = Innovation) können nach dieser obigen Definition auch einen Rückschritt bedeuten. Sie könnten dem, was eine Gesellschaft als gutes Leben definiert entgegen stehen:

„Neue Techniken können eine Gesellschaft ärmer statt reicher machen. Das Alte existiert häufiger neben dem Neuen weiter, als dass es von diesem verdrängt würde, und nicht selten steigert sich mit dem Neuen der Bedarf nach dem Alten noch (weshalb ich den Glauben, man werde fossile Energieträger und Atomenergie los, wenn man nur genug Windräder und Solaranlagen aufstelle, nicht teilen kann).

Es gibt keine Einbahnstraße von technischer Innovation zu gesellschaftlichem »Fortschritt«.“

Logik der Expansion

 Quelle: https://pbs.twimg.com/media/B5-lDJWCUAAwfya.jpg


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So begründet Hänggi wie Innovation (in seiner Definition) aus gesellschaftlicher Sicht auch Rückschritt bedeuten kann. Nun geht er aber noch deutlich weiter: Innovation kann nicht nur partiell auch gesellschaftlichen Rückschritt bedeuten, sondern Fortschritt systematisch bremsen.

Zu verstehen ist das vor dem Hintergrund der Expansionslogik in der unsere heutige Kultur und das weltweite Wirtschaftssystem eingebettet ist. Diese besagt, dass alles immer weiter wachsen muss. Wenn wir nicht weiter wachsen, dann leiden wir alle. Viele Unternehmen müssen zum Beispiel wachsen, um ihre Zinsen bedienen zu können.
Da wir dummerweise auf einem Planeten leben mit begrenzten Ressourcen und jedes Wachstum Ressourcen verbraucht, muss man keinen Doktor in Mathematik haben, um zu verstehen, dass es kein unbegrenztes Wachstum geben kann! Das glauben nur Ökonomen.
So beschreibt Hänggi in seinem Buch auch, dass wir heute an einem Punkt angekommen sind, an dem die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen sich durch Ihre „Entwicklung“ selbst zerstören eine durchaus reale ist.

In die Wachstums- und Wirtschaftslogik eingebettet sind Unternehmen und momentan auch Staaten unfähig, diesen Prozess zu stoppen und nicht zu wachsen.
Innovation ist für Unternehmen meist Wahl, sondern auf Grund des Wettbewerbs nötig, um das eigene Überleben nicht zu gefährden. Da alle Organisationen einen Überlebenswillen haben, werden sie innovieren.
Der „Nutzen“ von Innovation, den wir in unserer Definition voraussetzen, ist allerdings nicht näher definiert. Es muss lediglich eine ausreichend große Gruppe an Menschen geben, die einen Nutzen in einer Neuerung sehen und diesen meist durch Kaufbereitschaft ausdrücken. Der Begriff der Innovation ist dabei jedoch wie Hänggi schreibt inhaltsagnostisch:

„Aber für den Fetisch Innovation ist einfach alles, was neu ist, gut. »Innovation« ist inhaltsleer, aber nicht ideologiefrei, denn es gibt auch eine Ideologie der Inhaltsleere: den Neoliberalismus – eine extreme, aber mächtige Sekte der neoklassischen Schule der Ökonomie.“

Innovation verhindert Fortschritt

In diesem Sinne ist Innovation ein Hinderungsgrund für von Hänggi als notwendig erachteten gesellschaftlichen Fortschritt, der am guten Leben orientiert ist und aus purer Notwendigkeit eine Abkehr aus der Steigerungslogik bedeutet. Innovation zementiert jedoch dieses Spiel des immer mehr und verhindert dadurch wirklichen Fortschritt:

„Der Ruf nach Innovation ist, paradoxerweise, ein beliebter Weg, Veränderungen abzuwehren, wenn sie nicht erwünscht sind. Das Argument, die Wissenschaft und die Technik der Zukunft würden mit dem Klimawandel schon fertig, ist ein Beispiel dafür. (…) Technik war nicht generell eine revolutionäre Kraft; sie war ebenso sehr dafür verantwortlich, dass die Dinge blieben, wie sie waren, wie dafür, sie zu verändern.“
(Zitat von David Edgerton in Hänggi)

Es führt zu einem mehr an: “We buy things we don’t need with money we don’t have to impress people we don’t like.” (Dave Ramsey) und zur Zerstörung unseres Planeten.

Es bleibt abzuwarten ob uns eine Innovation der Innovation gelingt, die auch zu Fortschritt führt. Die Bewertung dessen, was als Fortschritt gilt wäre dann jedoch nicht mehr durch den Nutzer oder Kunden vorzunehmen, sondern Inhalt einer politischen Debatte.

Das wir das Spiel des unbegrenzten Wachstums und des Glaubens an dessen Möglichkeit irgendwann beenden müssen, steht außer Frage. Um mit den Worten von Harald Welzer zu enden: Es ist die Frage ob es sich um „change by design or change by disaster“ handeln wird.