Vermutlich 98% aller Organisation sind hierarchisch strukturiert. Nach oben hin werden die Menschen einerseits immer weniger, andererseits nimmt die Machtfülle immer mehr zu. So strukturierte Organisationen zeichnen sich durch eine formale Betriebshierarchie aus mit größerem Gestaltungsspielraum in den oberen Etagen der Hierarchie.
Dieses nach wie vor dominante Modell der Organisation stößt in der heutigen Zeit schnellen Wandels und hoher Geschwindigkeit immer öfter an Grenzen in Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit und Veränderungsgeschwindigkeit von Organisationen. Immer öfter schafft dieses institutionalisierte Eltern-Kind-Verhältnis auch Wertekonflikte bei der jüngeren Generation, die anders arbeiten möchte (zumindest in unseren Breiten).

Am 16. und 17. Juni 2016 kam in Wien eine immer größer werdende Avantgarde von Unternehmen zusammen, die anders organisiert sind. Zum Holacracy Practice Forum trafen sich ca. 50 Leute aus ganz Europa und 2 Leute aus den USA, um sich über ihre Erfahrungen mit dem Organisationssystem Holacracy auszutauschen. Holacracy kann als eine Innovation der Unternehmensorganisation bezeichnet werden, die statt auf nach oben gerichtete Hierarchien auf ein System von verteilter Autorität mit definierten Entscheidungsprozessen setzt. Auch creaffective ist seit Anfang Mai 2015 holakratisch, daher habe ich mir die Chance nicht entgehen lassen, von anderen Organisationen mit deutlich mehr Erfahrung zu lernen.
HPF1
Der Name Practice Forum war dabei Programm. Wie aus den Fotos vielleicht deutlich wird, handelte es sich um keine klassische Konferenz mit Key Notes, sondern vor allem um geleitete Austauschformate zu verschiedenen relevanten Themen von Praktikern für Praktiker. Die einzelnen Session-Hosts hatten dabei vor allem die Rolle mit einem kurzen Input eine Diskussion anzuregen.

Tag 1 des Forums beschäftigte sich mit dem Thema Kern-Prozesse und Strukturen unter Holacracy, Tag 2 drehte sich um die Menschen in holakratischen Strukturen.

Einige Schlüsselerkenntnisse möchte ich in diesem Artikel teilen.

Leute einstellen – aber anders

Holacracy schreibt nicht vor, wie genau der Einstellungsprozess funktioniert. Es haben einige Unternehmen ihre Praktiken (Apps) vorgestellt.
Ein Prinzip ist, dass die Entscheidung über Einstellungen immer in einer Gruppe getroffen wird, bestehend aus verschiedenen Personen.

Auch die Reihenfolge der einstellungsrelevanten Kriterien dürfte sich von der gängigen Praxis in den meisten Unternehmen unterscheiden.

Einstellungen: 4 Kernkriterien

Interessant sind die vier Kernkriterien für die Einstellung einer Person, die von vielen betont wurden und in dieser Reihenfolge angeschaut werden:

  1. Purpose Fit: Kann sich der Kandidat mit dem Purpose der Organisation identifizieren und ist es vorstellbar, dass er seine Energie im Sinne des Zwecks einsetzen wird?
  2. Association Fit: Passt ein Kandidat zu den Menschen in einem Kreis oder in der Organisation. Stimmt die Chemie? Bei manchen Firmen wird am Ende der Probezeit die Frage an die Etablierten gestellt: „Kann ich mich vorstellen die nächsten 10 Jahre mit dieser Person zu arbeiten?“
  3. Organization Fit: Passt ein Kandidat zu einem selbstorganisierten System mit verteilter Autorität? Kann er eigenverantwortlich und selbstorganisiert arbeiten? Kommt er mit den Prozessen und der Struktur zurecht?
  4. Kompetenzen: Passen die Kompetenzen zur Kernrolle für welche ein Kandidat eingestellt werden soll.
eine soziometrische Aufstellung

eine soziometrische Aufstellung

Leistungsbeurteilung

Auch beim Thema Leistungsbeurteilung gibt Holacracy per se nichts vor und die Organisationen sind frei, hier eine Lösung zu entwickeln. Das Berliner Unternehmen Finance Fox hat einige seiner Praktiken vorgestellt.

Eine gängige Praxis der Leistungsbeurteilung sind regelmäßige Feedback-Gespräche. Diese sind peer-to-peer, also zwischen zwei Personen, bezogen auf die Rollen, nicht auf die Person.
Dieses rollenbezogene Feedback stellt zum Beispiel zwei Fragen:

Positives: „what did you want from me and get?
Negatives: „what did you want from me and did not get?
An diese Leistungsbeurteilung ist keine Anpassung der Entlohnung gekoppelt, es geht nur darum Rückmeldung zu geben.

Neben dem Rollen-Feedback gibt es auch ein persönliches Feedback. Dazu kann es z.B. ein „personal relations meeting“ geben in welchem die Leute sich gegenseitig Rückmeldung geben, was sie am anderen schätzen und was sie als schwierig empfinden.

Strategieentwicklung

Auch die Entwicklung einer Strategie unterscheidet sich in selbst-organisierten Unternehmen. Dabei wurde für mich praktisch und konkret deutlich, wie eine Strategie „aus der Organisation entstehen“ kann.

Zum Einsatz bei der Strategiebildung kommt dabei das aus dem Silicon Valley bekannte Konzept der Objectives und Key Results (OKRs).
Ein Objective ist dabei ein nicht messbares Ziel, das man erreichen möchte: z.B. dem Kunden ein außergewöhnliches Erlebnis mit dem Produkt bieten.
Ein Key Result ist ein konkret messbarer Zustand. Pro Objective gibt es nach diesem Konzept maximal 4 Key Results.
Diese werden z.B. im Quartals-, Trimester- oder Halbjahres-Rhythmus festgelegt und bewertet.

Wichtig ist auch hierbei wieder, dass die OKRs keine Verknüpfung mit der Bezahlung haben, es sich also nicht um gehaltsrelevante Ziele wie in klassischen Unternehmen handelt.
Der Prozess der Festlegung der OKRs ist dabei zuerst bottom-up, in dem jeder in der Organisation seine Sicht der Dinge zeigt. Daraus werden unternehmensweite OKRs abgeleitet, die dann wieder auf einzelne Rollen heruntergebrochen werden. So entsteht eine Strategie aus der Organisation.

Eine der vielen Parallel-Sessions

Eine der vielen Parallel-Sessions

Entlohungsmodelle

Ein heißes Thema in vielen Firmen. Meist ist es auch so, dass man über Gehalt nicht spricht. Ganz anders in holakratischen Unternehmen. Dort ist es üblich, dass die Gehälter offen sind.
Das Beratungsunternehmen Dwarfs and Giants hat in dieser Session einige Möglichkeiten und Prinzipien vorgestellt.

Kernprinzipien aller Bezahlmodelle sollte sein:

  • Absolute Transparenz, wie ein Gehalt zustande kommt
  • Fairness ist wichtiger als Gleichheit. Ungleichheit ist kein Problem, es sollte nur transparent sein, wie es dazu kommt und für die Leute nachvollziehbar sein.
  • Gehälter sind nicht rollenbezogen sondern personenbezogen, da eine Person mehrere Rollen füllt.
  • Der Einfluss von Verhandlungen und Verhandlungsgeschick sollte so gering wie möglich sein (das würde dem Kriterium der Fairness und Transparenz wiedersprechen). Ganz im Gegensatz zu hierarchischen Unternehmen.

Die Einschätzung einer jeden Person findet dabei statt in Form einer Selbsteinschätzung und einer Einschätzung durch Kollegen
Außerdem wird in regelmäßigen Abständen, z.B. alle 6 Monate erneut beurteilt.

In vielen mit Holacracy arbeitenden Unternehmen gibt es verschiedene Gehaltsebenen, in welche die Menschen dann eingeordnet werden.

Tribe Space: Konflikte vermeiden

Eine konkrete „Gefahr“ von selbstorganisierten Systemen ist das Aufkommen von Konflikten. Besonders Holacracy macht alle ehemals impliziten Aspekte explizit. Gleichzeitig bieten die teilweisen rigiden Besprechungsformate in Holacracy keinen Raum zwischenmenschliche Spannungen zu adressieren, sondern lediglich rollenbezogene Spannungen.
Daher ist es umso wichtiger, dass selbstorganisierte Unternehmen einen Raum schaffen, in dem intra- und interpersonale Spannungen adressiert und bearbeitet werden können.

Austausch in Kleingruppen

Austausch in Kleingruppen


Das Berliner Unternehmen Soul Bottle zum Beispiel arbeitet dabei mit den Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation und betreibt im positiven Sinne sehr viel Aufwand , um diese Prinzipien zu leben und am Leben zu halten. Dadurch gelingt es, Spannungen auf der persönlichen Ebene schnell zu adressieren und diese nicht zu Konflikten auswachsen zu lassen.

Bessere Menschen hervorbringen?

In der Abschlussrunde kamen interessante Gedanken von Teilnehmern des Forums. Ein Teilnehmer meinte, dass selbstorganisierte Unternehmen eine großen Dienst an der Gesellschaft leisteten, weil sie den in der Organisation arbeitenden Menschen ermöglichen, bessere Menschen zu werden. Selbstorganisation führt zwangsläufig zu Spannungen der einzelnen Menschen und damit zur Notwendigkeit, sich als Mensch weiter zu entwickeln, um mit dem System erfolgreich arbeiten zu können. Diese Weiterentwicklung beinhaltet, dass Menschen sozial kompetenter im Umgang mit anderen Menschen werden.

Ich freue mich sehr auf das nächste Practice Forum in 2017.

Alle Fotos by: Markus Luger, Creative Commons License CC BY-SA