Tipping Points und kritische Masse

Jeden Tag kommen neue Produkte auf den Markt. Jeden Tag liest man von neuen, spannenden Ideen, von visionären Start-ups und radikalen Veränderungen. Manche Produkte und Ideen setzen sich durch und prägen unser Alltags- und Geschäftsleben. Manche verschwinden sehr bald wieder, oder werden überhaupt nie bekannt. Wieso sind manche Neuheiten erfolgreich, während andere scheitern?
In der Start-up-Szene hat man diverse Faktoren identifiziert: Eine Idee kommt manchmal zu früh, wenn die Gesellschaft noch nicht dafür bereit oder die Technologie noch nicht ausgereift ist; oder sie kommt zu spät, wenn man versucht, auf einen Trend aufzuspringen, der bereits abklingt; oder es geht um strukturelle Faktoren, wie ein zerstrittenes Gründungsteam oder mangelndes Kapital. Es kann aber durchaus auch sein, dass eine gute Idee zum richtigen Zeitpunkt nicht zündet, weil sie es nicht schafft, den sogenannten „Tipping Point“ zu erreichen. Sie wird nicht bekannt genug, um sich durchzusetzen.

Epidemien und soziale Macht

Mit dem „Tipping Point“ bezeichnet Malcolm Gladwell den Zeitpunkt, an dem ein bisher langsamer, eher verborgener Trend an Geschwindigkeit gewinnt und quasi explodiert, oder eben „kippt“. Er legt nahe, dass sich Ideen und Konzepte im sozialen Raum ähnlich ausbreiten wie Epidemien. Man ist sofort an die Bezeichnung von YouTube-Videos erinnert, die sich wie ein Lauffeuer verbreiten: virale Videos.
Was die Theorie des Tipping Points so interessant macht, ist der Gedanke, dass einzelne Menschen bei der Verbreitung neuer Ideen größere Macht haben als andere. Hier zieht Gladwell wieder einen Vergleich zur Entstehung von Epidemien. Bei der Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten scheint man tatsächlich häufig erkennen zu können, dass eine relativ kleine Gruppe von Menschen durch ihre Aktivitäten einen überdurchschnittlich großen Effekt auf die Verbreitung der Krankheit hat. Gladwell schlussfolgert daher, dass soziale Macht bei der Entstehung von Trends ungleich verteilt ist, und dass Menschen mit einem hohen Grad an Vernetzung als Multiplikatoren fungieren.

Das Konzept der kritischen Masse

Die Theorie ist durchaus umstritten. Es gibt Studien zur Verbreitung von Informationen, bei denen herauskam, dass individuelle Personen keinen über- oder unterdurchschnittlichen Effekt auf die Verbreitung haben. Trotzdem bleibt es ein interessanter Ansatz, um den plötzlichen Durchbruch neuer Ideen zu erklären.
Der Tipping Point ist ein Konzept ähnlich dem der „kritischen Masse“. Der Begriff stammt aus der Atomphysik und wird auch in der Spieltheorie und in der Diffusionstheorie verwendet. Wird erst einmal eine gewisse Verbreitung einer Idee erreicht, wird sie zum Selbstläufer. Beispiele hierfür sind Innovationen, deren Wert von der Anzahl der Nutzer abhängt. In den meisten Fällen handelt es sich um Neuerungen im Kommunikationsbereich. Das Aufkommen von Faxgeräten ist ein altes Beispiel, man könnte aber genauso gut WhatsApp erwähnen.
Tatsächlich gibt es diesen Effekt aber bei sehr vielen Innovationen. Auf Unternehmensseite bringen weitere Nutzer die Möglichkeit, Skaleneffekte zu nutzen und somit die Preise zu senken. Aber auch die Innovation selbst kann interessanter werden. Car-Sharing beispielsweise wird durch zusätzliche Nutzer interessanter, weil die Autos dadurch großflächiger zur Verfügung stehen. Die Theorie des „Tipping Points“ bleibt deswegen spannend, weil sie versucht, den Weg hin zum Erreichen dieser kritischen Masse zu erklären.

Sind Lead User Multiplikatoren?

Für Unternehmen würde sich demnach die Frage stellen: Wer sind passende Multiplikatoren, die ein neues Produkt bekannt machen können? Und wie findet man sie? Im klassischen Marketing setzt man häufig auf Testimonials bekannter Menschen, wie Sportler, Filmstars o.ä. Näher am Konzept des Tipping Points ist allerdings das virale Marketing, das ja gerade auf den Effekt der eigenständigen Verbreitung setzt.
Aus Unternehmenssicht interessant ist die Kombination mit der Lead User Theorie. Innerhalb von Gemeinschaften (Communities) sind Lead User oder Extremnutzer häufig auch als Multiplikatoren relevant. Ein gutes Beispiel hierfür sind Extremsport-Gemeinden oder andere Nischenmärkte. Theoretisch gibt es natürlich auch introvertierte Extremnutzer, die kaum vernetzt sind und somit keine Rolle bei der Verbreitung spielen dürften. Praktisch macht das aber keinen Unterschied, da man bei der Suche nach und dem Kontakt zu Lead Usern auf Netzwerke angewiesen ist. Das bedeutet, dass Lead User, die man über Netzwerke nicht findet, eh kaum eine Rolle spielen.
Natürlich taugt nicht jeder Lead User als Multiplikator. Und ob man durch Multiplikatoren wirklich einen eigenen Trend starten kann ist fraglich, da auch die wissenschaftliche Basis der Tipping-Point-Theorie nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Trotzdem können Lead User ein spannender Startpunkt sein. Das „Fachwissen“ von Extremnutzern hilft bei schon in den Phasen der Inspiration und der Evaluation. Entsteht dann eine neue Idee, die auf Zustimmung trifft, beginnen Lead user auch gleich mit der Verbreitung der Idee.